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»Sie interessieren sich für den Sinai? Das ist verlorene Liebesmüh. Um diese Zeit ist dort niemand mehr. Die Nikolajewski-Klause ist geschlossen, vor morgen kommen sie da nicht rein.«

Es stellte sich heraus, dass Sinai keineswegs, beziehungsweise nicht nur der heilige Berg war, auf dem Moses mit dem Herrn gesprochen hatte, sondern außerdem eine bekannte Sehenswürdigkeit von Neu-Ararat, ein steiler Felsen am See, wo man zum heiligen Nikolaus, dem Knecht Gottes, betete.

Die majestätische Knappheit der Notiz war beeindruckend. Weder »ich erwarte Sie« oder »kommen Sie« noch eine Erklärung, was »Sinai« war. Die unerschütterliche Überzeugung, dass er alles verstehen und ihrem Ruf unverzüglich Folge leisten würde. Dabei hatte sie ihn nur einen Augenblick gesehen! Eine Göttin!

Felix Stanislawowitsch erkundigte sich, wie er zum Sinai komme (der etwas mehr als eine Werst westlich des Klosters gelegen war), und machte sich auf zum nächtlichen Stelldichein.

Sein Herz stockte in freudiger Erwartung, und wenn etwas seine Euphorie überschattete, dann nur die Scham über die ärmliche »Zuflucht der Demütigen«. Er würde sagen, er sei inkognito in geheimer Mission gekommen, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, überlegte der Oberst unterwegs. Das würde besser klingen, geheimnisvoller.

Die Straßen von Neu-Ararat waren in der Nacht völlig ausgestorben. Auf dem ganzen Weg zum Kloster begegnete ihm nur eine einzige lebende Seele, eine Katze, eine schwarze obendrein.

An der weißen Klostermauer und der Kirchenpforte vorbei erreichte der Oberst den Waldrand. Er ging noch etwa eine Viertelstunde über einen breiten, ausgetretenen, leicht ansteigenden Pfad, dann traten die Bäume auseinander und vor ihm lag ein Hügel mit einem spitz zulaufenden kleinen Turm, hinter dem nichts mehr war außer dem schwarzen, sternenübersäten Himmel.

Munter ausschreitend lief Felix Stanislawowitsch den Hügel hinan und blieb dann stehen: Direkt hinter der Klause fiel der Hügel jäh ab. Weit unten, unterhalb des steilen Abhangs, plätscherte das Wasser, aus dem Findlinge hervorblitzten, und dahinter erstreckte sich die endlose Weite des Blauen Sees und seiner gleichmäßig wogenden Wassermassen.

Eine außerordentliche Landschaft, dachte Lagrange und nahm seine Schirmmütze ab – nicht etwa aus Ehrfurcht vor der Größe der Natur, sondern damit die englische Kopfbedeckung nicht vom Wind davongetragen würde.

Doch wo war sie? Sie hatte sich doch wohl keinen Scherz erlaubt?

Nein! Eine schlanke Gestalt löste sich von der Balkenwand und kam langsam näher. Die Straußenfedern wippten über der Hutkrempe, der Schleier flatterte wie ein leichtes Spinngewebe vor dem Gesicht. Die Hand in dem langen Handschuh (sie trug jetzt nicht mehr graue, sondern weiße Handschuhe) flog empor, um die Hutkrempe festzuhalten. Eigentlich waren nur diese flatternden weißen Hände zu sehen, weil das schwarze Kleid der geheimnisvollen Person mit dem Dunkel verschmolz.

»Sie sind stark, das habe ich an Ihrem Gesicht sofort erkannt«, sagte die junge Dame ohne lange Vorrede mit einer tiefen, klangvollen Stimme, bei der Felix Stanislawowitsch aus irgendeinem Grunde ein Schauer überlief. »Es gibt heutzutage so viele schwache Männer, Ihr Geschlecht degeneriert. Bald, in ein – oder zweihundert Jahren, werden Männer nicht mehr von Frauen zu unterscheiden sein. Doch Sie sind anders. Oder habe ich mich getäuscht?«

»Nein!«, rief der Polizeimeister aus. »Sie täuschen sich keineswegs! Aber . . .«

»Sie sagen ›aber‹?«, unterbrach ihn die geheimnisvolle Unbekannte. »Habe ich mich nicht verhört? Dieses Wort verwenden nur schwache Männer.«

Felix Stanislawowitsch erschrak und fürchtete, sie werde sich sofort umdrehen und in der Finsternis verschwinden.

»Ich wollte sagen ›Der Abendstern‹, doch vor Aufregung habe ich mich versprochen«, redete er sich heraus. »Der Abendstern, mein ewiger Beschützer, hat mich auf diese Insel geführt, hat meinem Herzen gesagt, dass es hier, gerade hier, diejenige treffen wird, von der es seit langem träumte . . .«

»Mir ist nicht nach schönen Redensarten zumute«, unterbrach ihn die Schöne erneut. Das schwache Licht der Sterne spiegelte sich in ihren Augen, verstärkte sich um ein Vielfaches und begann zu funkeln. »Ich bin völlig verzweifelt, und nur deshalb wende ich mich an den Erstbesten mit der Bitte um Hilfe. Dort, am Anleger, schien mir einfach, dass . . . dass . . .«

Ihre bezaubernde Stimme zitterte, und Lagrange vergaß auf der Stelle sämtliche galanten Tiraden, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Was?«, flüsterte er. »Was schien Ihnen? Um Christi willen!«

». . . dass Sie mich retten könnten«, vollendete sie ihren Satz kaum hörbar, wobei sie graziös ihren Arm schwenkte. Dieser weiß auf schwarz beschriebene Kreis erinnerte Felix Stanislawowitsch an den Flügelschwung eines verletzten Vogels.

Bis ins Innerste aufgewühlt rief er:

»Ich weiß nicht, welches Unglück Ihnen widerfahren ist, doch mein Wort als Offizier – ich werde alles für Sie tun! Alles! Erzählen Sie!«

»Fürchten Sie sich auch nicht?« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. »Ich sehe, dass Sie tapfer sind.«

Unvermittelt wandte sie sich ab, und ihr weißer, zarter Nacken befand sich direkt vor Lagranges Augen. Der Oberst hätte gerne seine Lippen darauf gepresst, doch er wagte es nicht. So viel zu seiner Tapferkeit.

»Da ist ein Mann . . . Ein furchtbarer Mann, ein echtes Ungeheuer. Er ist der Fluch meines Lebens.« Die junge Dame sprach langsam, als bereite ihr jedes Wort Mühe. »Ich werde Ihnen seinen Namen vorläufig nicht nennen, ich kenne Sie noch zu wenig . . . Sagen Sie mir nur, ob ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Das steht außer Zweifel«, erwiderte der Polizeimeister, der sich sogleich wieder gefangen hatte. Ein Schuft, der ein armes Mädchen quält – damit würde er schon fertig werden. Wenn er erst Oberst Lagrange kennen lernt, wird er weich wie Butter. »Ist er hier, dieser Mann? Auf der Insel?«

Sie sah sich nach Felix Stanislawowitsch um und gab ihm Gelegenheit, ihr gemeißeltes Profil zu bewundern. Sie nickte.

»Ausgezeichnet, gnädige Frau. Morgen muss ich einen Doktor hier in der Stadt aufsuchen, einen gewissen Korowin, sowie einen seiner Patienten. Aber von übermorgen an stehe ich vollkommen zu Ihrer Verfügung.«

Die junge Dame wandte sich nun ganz zu Lagrange um und schüttelte den Kopf, als könne sie es nicht recht glauben oder als sei sie im Zweifel. Nach einer langen Pause (wie lange sie dauerte, ist schwer zu sagen, weil Felix Stanislawowitsch unter ihrem flirrenden Blick erstarrte und das Zeitgefühl verlor) bewegten sich die zarten Lippen und wisperten:

»Nun denn, umso besser.«

Mit einem Ruck zog sie den Handschuh aus, um ihm mit einer majestätischen Geste die Hand zum Kuss hinzuhalten.

Der Oberst beugte sich über die wohl riechende, unerwartet warme Haut. Von der Berührung wurde ihm schwindlig – auf ganz natürliche Weise, wie nach ein paar Glas Rumpunsch.

»Das reicht«, sagte die junge Dame, und Lagrange wagte wiederum nicht, eigenmächtig zu handeln. Er wich sogar zurück. Hatte er das nötig?

»Wie . . . Wie heißen Sie?«, fragte er heftig atmend.

»Lidia Jewgenjewna«, antwortete sie zerstreut, während sie auf den Oberst zutrat und über seine Schulter hinweg blickte.

Felix Stanislawowitsch drehte sich um. Sie standen unmittelbar am Rand des Felsens. Noch einen Schritt zurück, und er würde den steilen Abhang hinunterstürzen.

Lidia Jewgenjewna stöhnte auf:

»Ich halte es hier nicht mehr aus! Dahin, ich will dahin!«

Mit einer weit ausholenden Gebärde deutete sie auf den See, vielleicht auch auf den Himmel. Oder auf die große Welt, die hinter den dunklen Wassern verborgen lag?

Der Handschuh entglitt ihren Fingern, beschrieb eine elegante Spirale im leeren Raum und schwebte in die Tiefe. Schulter an Schulter beugten sie sich vor und erblickten tief unten auf einem Felsvorsprung ein kleines weißes Etwas, das leicht im Winde flatterte.