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»Muss ich wirklich hinunterklettern?« Der Polizeimeister zuckte in Gedanken zurück, doch seine Finger knöpften bereits ganz von selbst das Jackett auf.

»Eine Kleinigkeit«, erklärte Felix Stanislawowitsch munter, in der Hoffnung, sie werde ihm Einhalt gebieten. »Ich hole ihn gleich.«

»Ja, ich habe mich nicht in ihm getäuscht.« Lidia Jewgenjewna nickte bestätigend, woraufhin der Oberst nicht bloß hinunterklettern, sondern sich schwalbengleich hinunterstürzen wollte. Angst schien es nie gegeben zu haben.

Sich am Wurzelwerk festklammernd, vorsichtig mit den Füßen Steine und kleinste Vorsprünge ertastend, begann er den Abstieg. Zweimal wäre er beinahe abgestürzt, doch der Herr beschützte ihn. Das flatternde, schmale Stück Stoff kam immer näher. Gut, dass der Handschuh nicht bis ganz nach unten geflogen, sondern auf der Hälfte des Abhangs hängen geblieben war.

Da war es ja, das teure Stück!

Lagrange streckte sich vor und steckte die seidene Trophäe in seinen Ausschnitt. Er blickte empor. Bis zur oberen Felskante war es ein gutes Stück, aber das machte nichts – hinaufklettern war einfacher als hinunter.

Es dauerte noch eine Zeit, bis er völlig verdreckt, keuchend und schweißnass wieder oben ankam.

»Lidia Jewgenjewna, hier ist Ihr Handschuh!«, verkündete er triumphierend und sah sich um.

Aber auf dem Hügel war keine Lidia Jewgenjewna mehr. Sie war verschwunden.

***

»So, Sie sind also sein Onkel mütterlicherseits, sagen Sie?«, vergewisserte sich Korowin, wobei er Felix Stanislawowitsch aufmerksam musterte und sein Blick aus irgendeinem Grunde auf dem Hals des Besuchers haften blieb. »Und Sie arbeiten bei einer Bank?«

Lagrange hockte nun schon seit fast einer Stunde im Kabinett des Doktors, und dabei war bislang noch nichts herausgekommen. Donat Sawwitsch hatte sich als ein schwieriger Gesprächspartner erwiesen, der sich beharrlich der psychologischen Beeinflussung widersetzte, deren Regeln die besten Köpfe im Polizeidepartement und im Gendarmeriekorps ausgearbeitet hatten.

In völliger Übereinstimmung mit der neuesten Vernehmungswissenschaft hatte der Polizeimeister versucht, schon in der allerersten Minute ihrer Bekanntschaft die richtige Hierarchie herzustellen und festzulegen, wer der »Vater« und wer der »Sohn« ist. Er schüttelte dem hageren, glatt rasierten Doktor kräftig die Hand, blickte ihm angelegentlich direkt in die Augen und sagte mit einem freundlichen Lächeln:

»Eine vortreffliche Einrichtung haben Sie da. Ich habe schon viel darüber gehört und gelesen und bin sehr beeindruckt. Es ist einfach ein Glück, dass Aljoschik in so zuverlässige Hände geraten ist.«

Das Kompliment wurde absichtlich mit überaus leiser Stimme vorgetragen, damit der Opponent sofort richtig zuhörte, seine Nackenmuskeln mobilisierte und unwillkürlich den Kopf vorneigte. Zudem würde Korowin nach dem Gesetz der Komplementarität dann laut sprechen und seine Stimmbänder anstrengen müssen. Damit wäre die erste Etappe zur Etablierung einer Beziehung erfolgreich abgeschlossen, und der psychologische Vorteil läge gleich von Anfang an beim Oberst.

Der Doktor aber beherrschte die Methode des diskursiven Positionsaufbaus nicht schlechter als der Polizeimeister. Er hatte sie bestimmt an seinen Patienten ausführlich geübt. Hätte die Unterhaltung nicht auf Donat Sawwitschs Territorium, sondern in einem strengen Kabinett mit dem Porträt Seiner Majestät des Zaren an der Wand stattgefunden, wäre der Vorteil auf Felix Stanislawowitschs Seite gewesen, so aber musste er seine Marschrichtung ändern.

Als der Arzt, ohne den Blick abzuwenden, dem Oberst energisch die Hand schüttelte und auf dessen schmeichelhafte Worte kaum vernehmlich antwortete: »Ich bitte Sie, was ist das schon für ein Glück?«, begriff Lagrange sogleich, dass er an den Falschen geraten war. Der Hausherr setzte den Besucher in einen außerordentlich bequemen, aber niedrigen und leicht nach hinten geneigten Sessel, während er selbst hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, so dass Felix Stanislawowitsch gezwungen war, zu Korowin aufzusehen. Der Doktor ergriff auch sofort die Initiative zum Gespräch.

»Es ist sehr gut, dass Sie so schnell gekommen sind. Nun, erzählen Sie schon.«

»Was soll ich erzählen?«, fragte Lagrange verwirrt.

»Das ganze Leben Ihres Neffen, von den allerersten Tagen an. Wann er den Kopf halten konnte, mit wie viel Monaten er laufen lernte, wie lange er ins Bett gemacht hat. Und seinen Stammbaum, in allen Einzelheiten. Der junge Mann war einmal bei mir, noch vor seinem Raptus, und ich habe eine erste Befragung durchgeführt, doch ich muss die Angaben überprüfen . . .«

Der Polizeimeister verfluchte sich für die unglücklich gewählte Identität und begann zu fantasieren und eine Million verschiedener idiotischer Fragen zu beantworten. Aber bis jetzt war es ihm noch nicht gelungen, zur Sache zu kommen.

»Ja, ich arbeite bei einer Bank«, erwiderte er. »Bei der Wolga-Kaspischen Bank, als Oberkontorist.«

»Aha, als Kontorist.« Donat Sawwitsch seufzte, entnahm dem goldenen Zigarettenetui mit Brillantmonogramm eine Papirossa, von der er einen Tabakkrümel blies. »Und woher haben Sie dann diesen Streifen am Hals ? Hier. So etwas haben für gewöhnlich Soldaten, von der ständigen Berührung eines Uniformkragens . . . Oder Gendarmen.«

Dieser Teufelsdoktor! Eine geschlagene Stunde hatte er sich jetzt über ihn lustig gemacht, ihn allerlei Blödsinn über Windpocken und Neigung zur Onanie bei seinem vergötterten Neffen verzapfen lassen, und dabei hatte er längst alles durchschaut!

Felix Stanislawowitsch grinste gutmütig und breitete die Arme aus, als lasse er dem Scharfsinn seines Gesprächspartners die gebührende Anerkennung widerfahren. Er musste eine andere Taktik einschlagen.

»Nun ja, Herr Korowin. Sie kann man nicht aufs Glatteis führen. Sie haben ganz Recht. Ich bin nicht der Kontorist Tscherwjakow. Ich bin der Sawolshsker Polizeimeister Lagrange. Sie verstehen, ein Mann in meiner Position beschäftigt sich nicht mit Kleinigkeiten. Ich bin hier in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit, wenn auch nicht offiziell. Dabei geht es . . .«

». . . um einen gewissen Mönch, der ungeniert auf dem Wasser wandelt und des Nachts die törichten Einwohner in Angst und Schrecken versetzt«, fiel der mit allen Wassern gewaschene Doktor ein und stieß einen Rauchkringel aus. »Und wodurch, wenn Sie gestatten, hat dieses Phantom die Aufmerksamkeit Ihrer unersättlichen, das heißt, ich wollte sagen unermüdlichen Behörde erregt? Sie halten doch wohl den heiligen Wassilisk nicht für das berüchtigte Gespenst, mit dem die Herren Marxisten die Ausbeuter einschüchtern?«

Lagrange wurde feuerrot und wollte den unverschämten Quacksalber in seine Schranken weisen, doch in dem Moment geschah etwas Merkwürdiges.

Der Tag war im Unterschied zum vorhergehenden sonnig und ungewöhnlich warm, weshalb die Fenster des Kabinetts offen standen. Es war herrlichstes Wetter, kein Wölkchen stand am Himmel, kein Lüftchen wehte, nur der Goldglanz des Blattwerks und das schillernde Flirren der Luft waren zu sehen. Und doch schwankte mit einem Mal der offen stehende Fensterflügel, nur ganz sacht, aber dem professionellen Blick des Polizeimeisters entging die Veränderung nicht. So, so – Felix Stanislawowitsch wollte sich das merken. Warten wir mal ab, was noch kommt.

Er beobachtete den interessanten Fensterflügel weiter aus dem Augenwinkel heraus und senkte die Stimme.

»Nein, Donat Sawwitsch, mit dem Gespenst des Kommunismus hat der schwarze Mönch ganz und gar keine Ähnlichkeit. Aber es gibt Unruhe und Aufregung bei den Einwohnern, und das fällt in unsere Zuständigkeit.«

»Folglich ist Lentotschkin ein Polizeispitzel?« Korowin schüttelte verwundert den Kopf. »Darauf kommt man im Leben nicht. Er ist offenbar ein fähiger Bursche, er hätte es weit gebracht. Aber dazu wird es jetzt wohl leider nicht kommen. Der Junge kann einem Leid tun, es steht äußerst schlecht um ihn. Das Schlimmste aber ist, dass ich keinen auch nur entfernt vergleichbaren Präzendenzfall finden konnte. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihn heilen kann. Unterdessen vergeht die Zeit, wertvolle Zeit. Lange wird er es so nicht mehr machen . . .«