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Endlich war man zur Sache gekommen.

»Was hat er Ihnen von den Ereignissen jener Nacht erzählt?«, fragte der Oberst und zückte seinen Notizblock.

Der Doktor zuckte die Schultern.

»Nichts. Rein gar nichts. Er war gar nicht in der Lage, etwas zu erzählen.«

Ich bin ihm unsympathisch, konstatierte Lagrange in Gedanken, und zwar so sehr, dass er es nicht einmal für nötig hält, das zu verbergen. Macht nichts, mein Bester, die Fakten wirst du mir ohnehin darlegen, so kommst du mir nicht davon.

Er sagte nichts, sondern klopfte nur viel sagend mit dem Bleistift auf das Papier: Fahren Sie fort, ich höre.

»Am vergangenen Dienstag, also vor genau einer Woche, weckte mich der Pförtner bei Morgengrauen. Ihr ›Neffe‹ hatte sich gewaltsam Zutritt zum Gelände verschafft, er war ganz zerzaust und zerkratzt, seine Augen quollen hervor, und er war vollkommen nackt.«

»Wie das denn?«, fragte Felix Stanislawowitsch ungläubig. »Vollkommen nackt? Und er war so über die Insel spaziert?«

»Nackter geht es nicht. Er wiederholte unablässig ein und dasselbe: ›Credo, Domine, credo!‹ Da er schon vorher bei mir gewesen war, als . . .«

Ich weiß, ich weiß, nickte der Oberst ungeduldig, weiter.

»Ach, Sie wissen davon?« Der Doktor kratzte sich an der Nasenwurzel. »Hm, das heißt, er hatte noch Gelegenheit, Ihnen von seinem ersten Besuch zu berichten . . . Jedenfalls, als ich sah, in welchem Zustand er sich befand, wollte ich ihn ins Haus bringen lassen. Aber das war unmöglich! Er schrie und riss sich los, die beiden Pfleger konnten ihn nicht einmal ins Vorzimmer tragen. Sie versuchten, ihm eine Decke überzuwerfen – es war schließlich kalt – , aber es war wieder das Gleiche: Er schlug um sich und warf die Decke ab. In ihrem Ärger haben sie ihn in die Zwangsjacke gesteckt, aber er bekam solche Krämpfe, dass ich sie ihm wieder ausziehen ließ. Ich bin überhaupt ein Gegner von Zwangsmitteln bei der Heilung. Ich begriff zunächst nicht. . .«

Donat Sawwitsch setzte die Brille ab, putzte gemächlich die Gläser und fuhr erst danach mit seiner Erzählung fort.

»Hm, ja, also ich begriff zunächst nicht, dass ich es mit einem ungewöhnlich starken Fall von Klaustrophobie zu tun hatte, bei dem der Kranke nicht nur den Aufenthalt in geschlossenen Räumen fürchtet, sondern auch keine Kleidung am Körper ertragen kann . . . Ich sage Ihnen, das ist ein sehr seltener Fall, weder in Lehrbüchern noch in Aufsätzen habe ich je davon gehört. Daher habe ich Ihren ›Neffen‹ zu Forschungszwecken hier behalten. Außerdem ist es unmöglich, ihn von hier wegzubringen. Zum einen wird er sich erkälten. Und überhaupt, wie soll man ihn unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Moral splitterfasernackt transportieren? Die Pilger wären empört, und auch der Archimandrit würde keine Nachsicht zeigen.«

Felix Stanislawowitsch runzelte die Stirn, während er die erstaunlichen Informationen verdaute. Den Fensterflügel (der sich übrigens nicht mehr bewegte) hatte der Polizeimeister völlig vergessen.

»Warten Sie, Doktor, aber . . . wo haben Sie ihn denn untergebracht? Lebt er etwa nackt in der freien Natur?«

Korowin brach in ein zufriedenes, herablassendes Lachen aus und erhob sich.

»Kommen Sie, Herr Oberkontorist, Sie sollen es selbst sehen.«

***

Die Heilanstalt des Doktor Korowin befand sich am schönsten Fleck der Insel Kanaan, auf einem sanft geneigten, bewaldeten Hügel, der sich nördlich des Städtchens erhob. Lagrange wunderte sich zunächst, dass es keine Zäune und Tore gab. Ein schmaler, mit fröhlichen gelben Ziegelsteinen gepflasterter Weg schlängelte sich zwischen Wiesen und Wäldchen dahin, wo kleine Häuschen ganz unterschiedlicher Bauart in einiger Entfernung voneinander standen: Es gab Steinhäuschen und solche aus Baumstämmen oder Brettern, es gab schwarze, weiße und bunte Häuschen, solche mit gläsernen Wänden und solche ohne Fenster, es gab Häuschen mit kleinen Türmen und solche mit flachen Dächern wie im Orient – kurz: Es gab weiß der Teufel was alles. Diese wunderliche Ansiedlung erinnerte Lagrange an ein Bild aus dem Buch »Das Städtchen in der Tabatiere«, das er als Kind sehr geliebt hatte, doch seither waren beinahe vierzig Jahre vergangen, und sein Geschmack hatte sich sehr verändert.

Sein erster Eindruck, noch bevor er Donat Sawwitsch kennen lernte, war folgender: Hier waren Verrückte einem noch Verrückteren zur Heilung anvertraut. Wo hatten die Aufsichtsbeamten des Gouvernements nur ihre Augen?

Jetzt aber, als er dem Doktor über das Gelände der Heilanstalt folgte, beachtete der Oberst diese Puppenhäuser nicht mehr, sondern er richtete seine Aufmerksamkeit auf die dichten Weißdornbüsche, die den Weg säumten. Dort schlich jemand umher, auf der anderen Seite, und zwar nicht besonders geschickt – er streifte raschelnd das trockene Blattwerk und knackte mit den Zweigen. Mit zwei Sprüngen hätte man auf der anderen Seite der Hecke sein und den, der dort herumstapfte, am Kragen packen können, doch Lagrange beschloss, nichts zu überstürzen.

Sie bogen in einen schmalen Pfad ein, der von gläsernen Treibhäusern mit Gemüsebeeten, Blumen und Obstbäumen gesäumt war.

Das hingegen ist löblich, dachte der Oberst beifällig, als er durch die Glaswände Erdbeeren, Apfelsinen und sogar Ananas erkannte. Korowin war offenbar ein Mann mit Geschmack.

Bei der größten Orangerie, einem Palmenhaus, das aussah wie eine Luftspiegelung über dem Ozean, wie eine über den trüben nördlichen Wassern schwebende üppiggrüne tropische Insel, blieb der Doktor stehen.

»Sehen Sie. Neunhundert Quadratklafter Palmen, Bananenstauden, Magnolien und Orchideen. Das hat mich einhundertvierzigtausend gekostet. Dafür ist es ein richtiger Garten Eden geworden.«

Lagranges Geduld war nun endgültig zu Ende.

»Hören Sie zu, Sie Kurpfuscher!« Der Oberst riss drohend die Augen auf. »Glauben Sie denn, ich bin hergekommen, um mir Blumen anzusehen? Jetzt reicht es mir aber! Wo ist Lentotschkin?«

Felix Stanislawowitsch war Furcht erregend in seinem Zorn. Selbst die Hafenpolizisten, hart gesottene Kerle, erstarrten dann vor Schreck. Aber Donat Sawwitsch zuckte nicht mit der Wimper.

»Na, dort drüben, unter der Glaskuppel, inmitten der Laubhütten des Paradieses.« Er zeigte auf das Palmenhaus. »Er hat sich selbst dorthin verkrochen, am allerersten Tag. Das ist der einzige Ort, an dem er sich aufhalten kann. Es ist warm, Wände und Dach sind nicht zu sehen. Wenn er Hunger hat, isst er eine Frucht. Wasser gibt es auch, eine Wasserleitung ist da. Sie wollten ihn sehen. Bitte sehr! Er ist nur sehr menschenscheu. Vielleicht versteckt er sich – da drin ist ein richtiger Dschungel.«

»Das macht nichts, wir finden ihn schon«, versicherte der Polizeimeister überzeugt. Er riss die Tür auf und marschierte in die feuchte, klebrige Hitze, die seinen Kragen auf der Stelle pitschnass werden und einen kitzligen Schweißfaden den Rücken hinunterrinnen ließ.

Er trabte den Hauptweg entlang und drehte den Kopf nach rechts und nach links.

Donat Sawwitsch hingegen fiel sofort zurück.

Aha! Hinter einem ausladenden Gewächs, dessen Namen der Oberst nicht kannte – es war giftgrün, mit Fleisch fressenden roten Knospen – blitzte etwas hervor, das von der Farbe her ein Körper sein konnte.

»Alexej Stepanowitsch!« rief der Polizeimeister. »Herr Lentotschkin! Bleiben Sie stehen!«

Von wegen! Die breiten, glänzenden Blatter erzitterten, und das leichte Geraschel davoneilender Füße erklang.