»Doktor! Gehen Sie linksherum, ich gehe rechtsherum!« kommandierte Lagrange, und er nahm die Verfolgung auf.
Er stolperte über eine dicke, sich über den Boden windende Ranke und schlug mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Das half. Vom Boden aus erblickte Felix Stanislawowitsch ein Stück eines Fußes, der hinter dem haarigen Stamm einer Palme hervorragte – etwa zehn Schritt entfernt, nicht mehr. Also da hast du dich versteckt, mein Bester!
Der Oberst stand auf, klopfte sich Ellbogen und Knie ab und rief:
»Es ist gut, Donat Sawwitsch! Soll er nur! Wenn er nicht will, dann eben nicht.«
Langsam kroch er durch das Gebüsch – ein Sprung zur Seite, und schon hatte er den nackten Mann an der Schulter gepackt.
Er war es – der Adlige Alexej Stepanowitsch Lentotschkin, 23 Jahre alt, kein Zweifel. Die kastanienbraunen Locken, die blauen Augen (die im Moment wild aufgerissen waren), das ovale Gesicht, der hagere Körper, Größe ein Meter siebenundsiebzig.
»Na, na, du brauchst nicht zu zittern«, sagte der Polizeimeister begütigend, denn es wäre ihm merkwürdig vorgekommen, einen Verrückten mit nacktem Hintern zu siezen. »Bischof Mitrofani schickt mich, ich bin gekommen, um dir zu helfen.«
Der Junge machte keinen Versuch, sich loszureißen, und blieb friedfertig stehen, zitterte aber heftig.
»Ich gebe ihm eine Spritze, damit er keinen Radau macht«, ließ sich Korowins Stimme vernehmen.
Der Doktor holte ein flaches Metallkästchen aus der Kitteltasche. In dreißig Sekunden hatte er eine Spritze mit einer durchsichtigen Flüssigkeit aus einem kleinen Fläschchen aufgezogen, als Aljoscha jämmerlich zu weinen anfing und sich dem Polizeimeister an die Brust warf. Es sah nicht so aus, als würde er Radau machen.
»Ich sehe schon, ich habe mich getäuscht, Sie sind wirklich sein heiß geliebter Onkel«, bemerkte Korowin kaltblütig und steckte die aufgezogene Spritze in die Tasche.
»Ach, scheren Sie sich zum Teufel«, winkte Lagrange ab, und er strich dem Verrückten unbeholfen über seinen lockigen Hinterkopf. »Ei, ei, ei, wie uns der ganze Unsinn erschreckt hat. Aber wir werden es ihnen zeigen. Husch, fort mit euch, werden wir sagen! Diesen Wassilisk werde ich im Nu schnappen, der wird mir keine Mätzchen machen. Der soll sich nur trauen, jetzt ist es aus mit ihm!«
Lentotschkin schluchzte, aber nicht mehr so krampfhaft wie zu Anfang.
Der Oberst rückte ein Stück ab und fragte schmeichelnd:
»Was hat dich denn so erschreckt? Na damals, in der Nacht? Sag schon, hab keine Angst.«
»Ps-s-st«, zischte der Jüngling und legte den Finger an die Lippen. »Er hört uns.«
»Wer, der schwarze Mönch? Der hört gar nichts. Der schläft tagsüber«, erklärte Felix Stanislawowitsch, der sich darüber freute, dass Aljoscha sich so zusammenhängend ausdrückte. »Sprich ganz leise, er wacht schon nicht auf.«
Der Verrückte warf Korowin von der Seite einen furchtsamen Blick zu, rückte dicht an Lagrange heran und flüsterte ihm ins Ohr:
»Das Kreuz ist gar kein Kreuz, es ist genau umgekehrt. Krrr an der Scheibe, die Wände trrr, die Decke schschsch, und du kannst nicht weglaufen. Die Tür ist klein, da kommt man nicht durch. Und die Fenster sind überhaupt winzig-winzig-klein.« Er zeigte mit seinen Fingern wie klein. »Das Häuschen hopp-schwopp, eine Hütte auf Hühnerbeinen.«
Alexej Stepanowitsch stieß ein feines Kichern aus, doch gleich darauf verzerrte sich sein Gesicht vor Entsetzen.
»Ich bekomme keine Luft! Es ist so eng! A-a-ah!«
Er zitterte am ganzen Körper und fing an zu murmeln:
»Credo, Domine, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo, credo . . .«
Er wiederholte das lateinische Wort hundert-, vielleicht auch zweihundertmal, und es war offensichtlich, dass er so bald nicht aufhören würde.
Lagrange packte den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn gehörig durch.
»Genug jetzt! Erzähl weiter!«
»Was soll ich erzählen?«, fragte Lentotschkin unversehens mit ruhiger, vernünftiger Stimme. »Geh hin, zu der Hütte auf Hühnerbeinen. Um Mitternacht. Dort wirst du schon sehen. Pass nur auf, dass es dich nicht zusammenschnürt, sonst bricht dir das Herz. Bums – und Spritzer fliegen zur Seite!«
Er fuhr zusammen, wollte sich ausschütten vor Lachen und wiederholte ein ums andere Maclass="underline" »Bums! Bums! Bums!«
»Es reicht!«, verkündete Donat Sawwitsch energisch. »Sie regen ihn nur auf, und er ist ohnehin schon so geschwächt.«
Lagrange wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß vom Hals.
»Was ist denn das für eine Hütte? Wovon redet er?«
»Ich habe keine Ahnung. Er fantasiert bloß«, erwiderte der Doktor unfreundlich, während er dem Kranken geschickt eine Nadel in die Hinterbacke stach.
Lentotschkin hörte beinahe sofort auf zu lachen, ging in die Hocke und gähnte.
»Genug, gehen wir.« Korowin zog den Oberst am Ärmel. »Er wird gleich einschlafen.«
Lagrange verließ das Palmenhaus tief in Gedanken versunken. Von dem »jungen Hüpfer« war offenkundig keine Hilfe zu erwarten. Der Gesandte des Bischofs war zu einem kompletten Idioten geworden. Na, egal, irgendwie würde er auch ohne ihn auskommen. Es war ein klarer Tag, was bedeutete, dass es eine helle Nacht geben würde. Es war Neumond vorbei, also genau die richtige Zeit für den schwarzen Mönch. Heute Abend würde er sich auf dieser Landzunge auf die Lauer legen. Und sobald der Kerl sich zeigen würde, würde er ihn auf frischer Tat ertappen. Was machte es schon aus, dass er ein Gespenst war? Im vorletzten Jahr, als er noch seine frühere Stellung im Kreis Priwislenski bekleidete, hatte Felix Stanislawowitsch höchstpersönlich Stas, den Blutsauger, den Lubliner Vampir, verhaftet. So gerissen er auch war, dieser Werwolf – da hatte er keinen Mucks mehr gemacht.
Doch bevor er nach Ararat zurückkehrte, musste er noch etwas anderes erledigen.
Als er aus der Tropenhitze in die erquickende nördliche Kühle hinaustrat, horchte der Polizeimeister in die Stille; eine halbe Minute stand er reglos da, um dann zielstrebig in die Büsche zu stürzen und einen sich heftig wehrenden Mann hervorzuziehen – ebenjenen Spion, der schon vorhin am Weg herumgeschlichen war und vermutlich auch unter dem Fenster gelauscht hatte, jemand anders konnte es gar nicht gewesen sein.
Wie sich herausstellte, kannte er ihn. Wenn man so jemanden einmal gesehen hat, vergisst man ihn nie wieder: die schwarze Baskenmütze, der karierte Mantel, die violette Brille und der gezwirbelte Bart. Es war der Flegel von der Anlegestelle.
»Wer bist du?«, brüllte der Oberst. »Was spionierst du herum?«
»Wir müssen! Unbedingt! Über alles!«, sprudelte der Knirps hervor, wobei er Worte und ganze Satzteile verschluckte, sodass sein ganzes Geschwätz keinen Sinn ergab. »Ich habe es gehört! Obrigkeit! Heilige Pflicht! Weiß der Teufel, womit! Hier ist der Tod, und sie! Niemand, keine Menschenseele! Taube, Blinde, Himbeerrote!«
»Sergej Nikolajewitsch, mein Bester, beruhigen Sie sich.« Korowin redete freundlich auf den Schreihals ein. »Sie werden wieder Krämpfe bekommen. Dieser Herr wollte den jungen Mann besuchen, der im Palmenhaus wohnt. Was haben Sie denn gedacht?« Halblaut erklärte er dem Oberst: »Auch einer meiner Patienten, Sergej Nikolajewitsch Ljampe. Ein überaus talentierter Physiker, aber ein ziemlich absonderlicher Kauz.«
»Absonderlich ist gut«, brummte Felix Stanislawowitsch vor sich hin, doch er lockerte seinen eisernen Griff und ließ den Gefangenen los. »Der ist völlig durchgedreht und läuft hier frei herum. Weiß der Teufel, was bei Ihnen für Zustände herrschen.«
Der niedergeschlagene Physiker rang flehentlich die Hände und rief:
»Ein schrecklicher Irrtum! Ich dachte, nur ich! Aber das bin nicht ich! Das ist noch jemand anders! Es ist alles anders! Aber das ist unwichtig! Ich muss dorthin!« Er zeigte irgendwohin zur Seite. »Eine Kommission ist nötig! Nach Paris! Mascha und Toto! Sie sollen herkommen! Wenn sie es sehen, werden sie verstehen! Sagen Sie es ihnen allen! Der Tod! Und es wird noch weitergehen!«