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Aus, genug jetzt! Lagrange hatte die Nase voll von Unterhaltungen mit Idioten. Er tippte sich undelikat mit dem Finger an die Schläfe und ging davon, doch der Verrückte wollte sich noch immer nicht beruhigen. Er überholte den Oberst, lief voraus, klammerte sich mit den Händen an seine idiotische Brille und stöhnte verzweifelt:

»Himbeerrot, ein himbeerroter Kopf! Hoffnungslos!«

***

Der Polizeimeister folgte dem mit Ziegeln gepflasterten schmalen Weg, der sich zwischen den Hügeln hindurchschlängelte, und um keine Zeit zu verlieren, hielt er direkten Kurs auf den Glockenturm des Klosters, dessen zwiebelförmige goldene Kuppel über den Baumwipfeln hervorblitzte. Er ging durch einen lichten Hain, über eine Waldwiese und durch gelblich rotes Buschwerk, bis er schließlich zu einer Lichtung kam, von der aus das Gelände zur Ebene hin abfiel und man einen ausgezeichneten Blick auf die Stadt und das Kloster, auf beinahe die halbe Insel und obendrein noch auf die Weite des Sees hatte.

Am Rande der Lichtung, in einem Pavillon mit durchbrochenen Gitterwänden, saß ein Mann in Strohhut und kurzer Joppe. Als er die energischen Schritte hinter sich vernahm, schrie der Unbekannte erschrocken auf und verbarg mit einer hastigen Bewegung etwas unter dem Mantel, der neben ihm auf der Bank lag.

Diese Gebärde war Lagrange aus dem Polizeidienst bestens bekannt. So versteckt ein auf frischer Tat ertappter Dieb sein Diebesgut. Man kann ihn ohne zu zögern am Kragen packen und auffordern, die Taschen auszuleeren – irgendetwas Verdächtiges wird sicher zum Vorschein kommen.

Das diebische Subjekt sah sich zum Oberst um und zeigte ein sanftes, verwirrtes Lächeln.

»Verzeihen Sie, ich hielt Sie für . . . jemand ganz anders. Ach, das wäre mir jetzt aber ungelegen gekommen!«

Da bemerkte er Felix Stanislawowitschs von Berufs wegen argwöhnischen Blick und fing leise an zu lachen:

»Sie haben wohl angenommen, ich hätte hier eine Mordwaffe versteckt oder sonst etwas Schreckliches? Nein, mein Herr, es ist ein Buch.«

Bereitwillig hob er den Mantel an, unter dem sich tatsächlich ein Buch befand, ein ziemlich dickes Buch in einem braunen Ledereinband. Entweder etwas Unzüchtiges oder etwas Politisches – eines von beiden musste es sein. Warum hätte er es sonst verstecken sollen?

Doch dem Polizeimeister war nicht nach verbotener Lektüre.

»Was geht das mich an?«, brummte er verärgert. »Was ist denn das für eine Art, einen Fremden mit solchen Albernheiten zu belästigen . . .«

Er ging weiter, um den Fußweg hinunter in die Stadt zu nehmen.

Der gesprächige Herr rief ihm hinterher:

»Donat Sawwitsch macht mir auch immer Vorwürfe, dass ich zu aufdringlich bin und die Leute belästige. Entschuldigen Sie.«

In der Stimme, mit der diese Worte ausgesprochen wurden, lag keine Spur von Beleidigung. Lagrange blieb wie angewurzelt stehen, wenn auch nicht etwa aus Reue über seine Schroffheit, sondern weil er den Namen des Doktors vernommen hatte.

Der Oberst kehrte zum Pavillon zurück und betrachtete den Unbekannten genauer. Er sah die zutraulich aufgesperrten blauen Augen, die weiche Linie der Lippen und den kindlich-naiv zur Seite geneigten Kopf.

»Sie sind gewiss einer der Patienten des Herrn Korowin?«, erkundigte sich der Polizeimeister mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Nein«, antwortete der Blonde, wiederum ohne im Geringsten gekränkt zu sein. »Ich bin jetzt völlig gesund. Aber es stimmt, früher war ich in Behandlung bei Donat Sawwitsch. Er kümmert sich auch jetzt noch um mich. Er gibt mir Ratschläge und beaufsichtigt meine Lektüre. Ich bin nämlich schrecklich ungebildet, ich habe nie etwas Richtiges gelernt.«

Anscheinend bot sich hier eine gute Gelegenheit, zusätzliche Informationen über den scharfzüngigen Doktor zu sammeln. Man sah sofort, dass diese Schlafmütze nichts für sich behalten konnte – der würde bereitwillig alles ausplaudern, wonach man ihn fragte.

»Gestatten Sie vielleicht, dass ich mich ein wenig zu Ihnen setze?«, fragte Lagrange, während er die Stufen emporstieg. »Hier ist die Aussicht wirklich sehr schön.«

»Ja, sehr schön, deshalb sitze ich auch so gerne hier. Neulich, als die Luft ganz besonders durchsichtig war, wissen Sie, was mir da eingefallen ist?« Der Blondhaarige rückte ein Stück, um Platz zu machen, und fing wieder an zu lachen. »Man müsste mal einen eingefleischten Atheisten hierher verpflanzen, einen von denen, die immerzu wissenschaftliche Beweise für die Existenz Gottes verlangen, und diesem Skeptiker die Insel und den See zeigen. Da hätte er seinen Beweis, andere braucht es gar nicht. Finden Sie nicht auch?«

Felix Stanislawowitsch stimmte ihm sofort eifrig zu, während er überlegte, wie er die Unterhaltung am besten in produktive Bahnen lenken könnte, aber sein redseliger Gesprächspartner hatte offenbar eigene Vorstellungen über die bevorstehende Konversation.

»Es kommt mir sehr gelegen, dass Sie sich zu mir gesellen. Ich habe hier in einem Roman sehr viele wichtige Dinge gelesen und möchte mich schrecklich gerne mit jemandem darüber aus tauschen. Zudem habe ich viele Fragen. Und Sie haben ein so kluges, energisches Gesicht. Man sieht sofort, dass Sie zu allem eine feste Meinung haben. Sagen Sie doch, was ist Ihrer Ansicht nach das ungeheuerlichste Verbrechen, das ein Mensch begehen kann?«

Der Polizeimeister überlegte eine Weile, dachte an die Bestimmungen des Strafrechts und erwiderte dann:

»Hochverrat.«

Der Romanleser schlug die Hände zusammen, und vor lauter Aufregung zuckte seine rechte Wange.

»Oh, wie ähnlich wir denken! Stellen Sie sich vor, ich meine ebenfalls, dass es nichts Schlimmeres als Verrat gibt und geben kann! Das heißt, ich meine nicht einmal Hochverrat (obwohl es natürlich nicht richtig ist, einen Eid zu brechen), sondern den Verrat am anderen. Besonders, wenn jemand schwach ist und dir von ganzem Herzen vertraut. Ein Kind zu verführen, das dich vergöttert und nur durch dich gelebt hat – das ist entsetzlich. Oder über ein armseliges, schwachsinniges Wesen zu spotten, das von allen unterdrückt wird und auf der ganzen Welt nur an dich allein geglaubt hat. Vertrauen oder Liebe zu schmähen – das ist wohl schlimmer als Mord, obwohl es vom Gesetz nicht bestraft wird. Das heißt doch, seine unsterbliche Seele zugrunde zu richten. Wie denken Sie darüber?«

Felix Stanislawowitsch runzelte die Stirn und antwortete umständlich:

»Nun, bei Verführung Minderjähriger sieht das Gesetz Zwangsarbeit vor, aber was die übrigen Arten alltäglichen Verrats betrifft – natürlich nur, soweit es sich nicht um finanzielle Betrügereien handelt – , ist die Lage komplizierter. Viele Menschen, insbesondere Männer, halten Ehebruch überhaupt nicht für, eine Sünde. Aber auch bei unserem Geschlecht gibt es Ausnahmen.« Er wurde lebhaft, weil er sich bei der Gelegenheit an eine pikante Geschichte erinnerte. »Ich hatte einen Kommilitonen, einen gewissen Bulkin. Er war der tugendhafteste Ehemann, hatte einen Narren gefressen an seiner Ehefrau. Wir alle besuchten nach dem Unterricht gelegentlich ein Freudenhaus auf der Ligowka, aber er ging unbeirrt nach Hause, ein richtiger Sonderling. Nach dem Examen wurde er zum Baltischen Geschwader abkommandiert, und zwar zur Spezialeinheit.« Der Oberst stockte erschrocken, weil er sich verraten hatte, und warf einen besorgten Blick auf seinen Gesprächspartner. Seine Sorge war umsonst – der Blonde schaute noch immer arglos, interessiert und friedlich drein. »Nun ja, also Folgendes. Er ging mit dem Geschwader auf Fahrt, manchmal sehr lange, mehrere Monate. Die Offiziere stürzten in jedem Hafen sofort zum Bordell, aber Bulkin blieb in der Kajüte und bedeckte das Medaillon mit dem Antlitz seiner Frau mit Küssen. Etwa ein Jahr lang war er so unterwegs und quälte sich, bis er einen ausgezeichneten Kompromiss fand.«