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Ein anderer wäre vielleicht davor zurückgeschreckt, sich auf eine so undurchsichtige, in keinem Reglement, in keiner Dienstanweisung beschriebene Unternehmung einzulassen, aber nicht so Oberst Felix Stanislawowitsch Lagrange.

Als der Polizeimeister in der undurchdringlichen Finsternis auf die schreckliche Hütte zuging (es war genau fünf Minuten vor Mitternacht), schlug sein Herz gleichmäßig, seine Hände zitterten nicht, und sein Schritt war fest.

Rings umher aber war es unheimlich. Fern im Wald schrie ein Uhu, vom Wasser her wehten Kälte und Grauen, und ansonsten herrschte absolute Totenstille, sodass man den eigenen Herzschlag hören konnte, als hielte man sich die Ohren zu. Als sich Lagranges Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, machten sie weiter vorn die windschiefen Umrisse der aus Balken gezimmerten Hütte aus, und es schien dem Oberst unglaublich, dass hier noch vor wenigen Tagen eine junge, gewiss glückliche Familie gewohnt hatte, die ihren alltäglichen Verrichtungen nachgegangen war und ihr erstes Kind erwartet hatte. Nichts Lebendiges, Warmes, Freudiges konnte an einem solchen Ort gedeihen.

Felix Stanislawowitsch erschauerte – ihn fröstelte plötzlich, obwohl er ein wollenes Wams unter dem Jackett und der Weste trug. Für alle Fälle (weiß der Teufel für welche) zog er seine Smith & Wesson unter der Achsel hervor und steckte sie unter den Gürtel.

Die Tür war mit zwei über Kreuz gelegten Brettern vernagelt. Der Polizeimeister steckte die Finger in den Spalt hinter dem einen Brett, zog aus Leibeskräften daran und wäre beinahe hingefallen, so leicht sprangen die Nägel aus dem morschen Holz. Ein widerwärtiges Splittern und Knirschen durchbrach die Stille, mit heftigem Flügelschlag erhob sich ein großer Vogel vom Dach.

Lagrange entdeckte das Fenster sofort: ein graues Quadrat auf schwarzem Grund.

Nun musste er zum Fenster treten, sich bekreuzigen und sagen: »Komm, unreiner Geist, zu dem Zeichen, das du hinterlassen hast, gemäß der Übereinkunft von Gabriel mit dem Teufel.« Verflixt, wenn er sich nur nicht versprach!

Mit ausgestreckten Armen ging Felix Stanislawowitsch vorsichtig weiter. Die Finger ertasteten seitwärts etwas Hölzernes, Großes. Eine Truhe? Eine Kiste?

DIE DRITTE EXPEDITION

Abenteuer eines Klugen

Die Nachricht über den Selbstmord von Oberst Lagrange erreichte Sawolshsk erst drei Tage nach diesem entsetzlichen Vorfall, da es auf den Inseln keinen Telegrafen gab und alle Mitteilungen, selbst außerordentlich wichtige, wie in alter Zeit überbracht wurden – per Post oder per Eilboten.

In den Briefen des Klostervorstehers an die weltliche und die geistliche Obrigkeit des Gouvernements fanden sich nur sehr knappe Angaben zu den Umständen des Dramas. Der Körper des Polizeimeisters war in einem verlassenen Haus gefunden worden, in dem früher die Familie des Bakenwärters gelebt hatte, der einige Tage zuvor ebenfalls Hand an sich gelegt hatte. Doch während im letzteren Fall die Ursache des wahnsinnigen und vom Standpunkt der Religion aus unverzeihlichen Verbrechens mindestens verständlich war, mochte der Archimandrit über die Gründe, die den Polizeimeister zu diesem verhängnisvollen Schritt bewogen hatten, nicht einmal Vermutungen anstellen. Er betonte besonders, dass er über die Ankunft eines hohen Polizeioffiziers (der Rang des Ankömmlings war erst post mortem bei der Durchsicht seines Zimmers und seiner Sachen entdeckt worden) in Neu-Ararat keinerlei Kenntnis gehabt habe, und er erbat, ja, er forderte diesbezüglich eine Erklärung von Seiten des Gouverneurs.

An Einzelheiten wurde lediglich Folgendes mitgeteilt: Der Oberst hatte sich mit einem Schuss aus seinem Revolver in die Brust getötet. Es gab leider keinerlei Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um einen Selbstmord handelte: Der Tote hielt die Waffe umklammert, in deren Trommel eine Kugel fehlte. Das tödliche Blei war direkt ins Herz gedrungen und hatte dieses Organ in Stücke gerissen, sodass der Tod allem Anschein nach augenblicklich eingetreten war.

Damit endete der Brief an Gouverneur von Gaggenau, während die Epistel an den Bischof noch einen ziemlich ausführlichen Zusatz aufwies. Darin machte der Archimandrit den Bischof darauf aufmerksam, welche Konsequenzen der schändliche Vorfall für den Frieden, die Ruhe und die Reputation des heiligen Klosters nach sich ziehen könnte, auf die ohnehin schon ein Schatten gefallen sei durch allerlei beunruhigende Gerüchte (dieser zurückhaltende Ausdruck bezog sich zweifellos auf die sattsam bekannten Erscheinungen des Schwarzen Mönchs). Dank der gnädigen Vorsehung Gottes, so schrieb der Klostervorsteher, wüssten bislang nur wenige Leute von dem Unglück: der Kirchendiener, der den Leichnam entdeckt hatte, drei Brüder der Friedenswächter (so hieß die Klosterpolizei in Neu-Ararat) und der Diener des Hotels, in dem der Selbstmörder abgestiegen war. Allen sei ein Schweigegelübde abgenommen worden, doch sei es zweifelhaft, ob es gelingen würde, den Skandal vor den Einwohnern und den Pilgern völlig geheim zu halten. Vater Witalis Brief schloss mit den Worten: ». . . und ich hege sogar die Befürchtung, dass diese früher so friedvolle Insel wie einstmals Albion den gottlosen Beinamen ›Insel der Selbstmörder‹ erhält, weil innerhalb kurzer Zeit bereits zwei Menschen diese schlimmste aller Todsünden begangen haben.«

Der Bischof gab allein sich selbst die Schuld an der Tragödie. Gebückt und mit einem Mal gealtert, erklärte er seinen vertrauten Ratgebern:

»Das alles ist allein meinem Stolz und meiner Anmaßung zuzuschreiben. Ich habe auf niemanden gehört, alles selbst entschieden, und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Zuerst habe ich Aljoscha zugrunde gerichtet, und jetzt Lagrange. Und das Unerträglichste ist – ich habe nicht nur ihre sterblichen Körper der Schande preisgegeben, sondern ihre unsterblichen Seelen. Bei dem einen ist die Seele von schwerem Leiden gezeichnet, der andere hat seine Seele endgültig vernichtet. Das ist hundertmal schlimmer als der einfache Tod . . . Ich habe mich geirrt, grausam geirrt. Ich glaubte, ein Soldat mit seiner Gradlinigkeit und mangelnden Fantasie sei nicht anfällig für seelische Verzweiflung und mystische Schrecken. Ich habe nicht bedacht, dass Menschen von solchem Charakter sich nicht biegen können, sondern zerbrechen, wenn sie mit einem Phänomen konfrontiert sind, das ihr einfaches, klares Weltbild zerstört. Tausendmal Recht hattest du, meine Tochter, als du vom gordischen Knoten sprachst. Offenbar hat unser Oberst einen Knoten gesehen, den er nicht zu lösen imstande war. Seine Ehre gestattete ihm nicht, den Rückzug anzutreten, also wollte er den komplizierten Knoten mit aller Kraft zerschlagen. Und der Name dieses gordischen Knotens ist – Gottes Welt. . .«

Der Bischof konnte nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus, aber da er aufgrund seiner Charakterstärke keine Neigung zum Weinen hatte und überhaupt nicht über die Gabe der Tränen verfügte, brachte er nicht sonderlich würdevolle Laute hervor: zunächst ein dumpfes Stöhnen, ein Krächzen im Hals und dann ein ausdauerndes Schneuzen ins Taschentuch. Doch die Unbeholfenheit dieser Klage um eine verlorene Seele wirkte auf die Anwesenden stärker als jedes Schluchzen: Matwej Benzionowitsch musste blinzeln und zog ein riesengroßes Taschentuch hervor, und Schwester Pelagia machte die männliche Knauserei beim Weinen wett, indem sie unverzüglich in Tränen zerfloss.

Der Bischof fasste sich als Erster wieder.

»Ich werde für Felix Stanislawowitschs Seele beten. Allein, in meiner Hauskapelle. In der Kirche darf man für einen Selbstmörder nicht beten. Auch wenn er selbst Gott zurückgewiesen hat und es keine Vergebung für ihn geben wird, er verdient trotzdem ein gutes Angedenken im Gebet.«

»Es gibt keine Vergebung?« schluchzte Pelagia. »Keinem Selbstmörder wird Vergebung gewährt? Niemals, niemals, selbst in tausend Jahren nicht? Wissen Sie das ganz sicher, Eminenz?«