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Unverzüglich wurde er aus seiner Umarmung zurückgestoßen und mit harten, aber gerechten Worten beschimpft. Er übernachtete im Kabinett, auf dem harten Diwan, aber am schlimmsten war es, dass er sich bei der Abreise am frühen Morgen nicht im Guten von seiner Frau verabschieden konnte. Die Kinder küsste und segnete er, alle zwölf Seelen, aber es gelang ihm nicht, sich mit der unbeugsamen Mascha zu versöhnen.

In der Schublade seines Schreibtischs hinterließ er Verfügungen über seinen Besitz – für alle Fälle, als verantwortungsvoller Mensch.

Ach, Mascha, Mascha, werden wir uns Wiedersehen?

***

Reue – das war das Gefühl, von dem der stellvertretende Staatsanwalt auf dem Weg zum Archipel von Sineosjorsk beherrscht wurde. Worauf hatte er sich da, einer flüchtigen Anwandlung folgend, eingelassen? Und wofür?

Wofür, oder besser gesagt: für wen, das war klar – für seinen geliebten Mentor und Wohltäter, aber auch, um die Wahrheit herauszufinden, wozu ein Diener der Jurisprudenz verpflichtet ist. Aber da war noch die moralische, ja philosophische Frage: Welches ist die erste Pflicht des Menschen – die Gesellschaft oder die Liebe? In der einen Waagschale liegen Bürgersinn, berufliche Reputation, männliche Ehre und Selbstachtung, in der anderen dreizehn Seelen – eine weibliche und zwölf kindliche (und bald, so Gott will, würde eine weitere, ganz kleine, hinzukommen). Wenn es nur um ihn selbst ginge, wäre es halb so schlimm, doch diese dreizehn Seelen, die ohne ihn verloren wären und die ihm, um die Wahrheit zu sagen, viel teurer waren als alle die Millionen, die die Erde bevölkern, was konnten sie dafür? Man mochte es drehen und wenden, wie man wollte, Matwej Benzionowitsch würde so und so als Verräter dastehen. Würde er der Familie den Vorrang geben und sich vor der Aufgabe drücken, dann würde er seine Prinzipien und die Gesellschaft verraten. Würde er hingegen ehrlich der Gesellschaft dienen, wäre er ein Schuft und ein Judas vor Mascha und den Kindern.

Bei weitem nicht zum ersten Mal bedauerte Matwej Benzionowitsch, den Weg eines Gesetzeshüters eingeschlagen zu haben, der für einen anständigen Menschen so beschwerlich ist. Wäre er Rechtsanwalt oder juristischer Konsultant geworden, befände er sich gewiss nicht in dieser moralischen Zwickmühle.

Aber nein, sagte sich Berditschewski darauf, ebenfalls nicht zum ersten Mal. Jeder Mensch, selbst derjenige, der nicht im Staatsdienst steht und ein privates Leben führt, erlebt unausweichlich Interessenkonflikte, bei denen er wählen muss, was er opfern will. Diese Erfahrung hält Gott für jeden Lebenden bereit, damit er sich erkennen und sein Kreuz der Schulter anpassen kann – wenn nicht das eine, dann würde er das andere tragen können.

Seine Seele war voll Unrat, auch ohne die moralischen Qualen wegen der Entscheidung, die er getroffen hatte. Es war so, dass Matwej Benzionowitsch die Eigenschaften, die er in seiner Seele entdeckte, ganz und gar nicht gefielen. Anstatt sich beflügelt und beseelt von dem Verlangen, die Wahrheit zu finden, in die Untersuchung zu stürzen, empfand der stellvertretende Staatsanwalt ein ganz anderes Gefühl, das man vornehm als Kleinmut oder einfacher ausgedrückt als entsetzliche Feigheit bezeichnen konnte.

Welcher Leidenschaft, welcher Alpträume hatte es bedurft, damit ein höhnischer Nihilist den Verstand verlor und ein rauer, unerschrockener Polizeioffizier sein Herz in Stücke schoss? Was für ein Moloch hatte sich dort eingenistet, auf dieser verfluchten Insel? Und war ein gewöhnlicher, keineswegs besonders heldenhafter Mensch imstande, sich auf einen Zweikampf mit einer solchen Schreckgestalt einzulassen?

Als gebildeter, fortschrittlicher Mensch glaubte Matwej Benzionowitsch natürlich nicht an böse Mächte, an Erscheinungen und dergleichen mehr. Andererseits aber konnte man nach Hamlets Maxime – »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio« – die theoretische Möglichkeit der Existenz irgendwelcher anderer, bislang von der Wissenschaft noch nicht entdeckter Energien und Substanzen nicht vollständig ausschließen.

Berditschewski saß verzagt und unglücklich an Deck des Dampfers, hüllte sich in seinen leichten Palmerston mit der Pelerine (da die Untersuchung geheim war, hatte er seinen guten Uniformmantel nicht mitgenommen) und seufzte in einem fort.

Wohin er seinen Blick auch lenkte, ihm missfiel einfach alles. Die sauertöpfischen Mienen der mitreisenden Pilger, die düsteren Weiten des großen Sees, die schlurfende Gangart der Matrosen mit ihren finsteren Gesichtern. Der Kapitän hingegen sah aus wie ein Seeräuber, auch wenn er eine Kutte trug. Er war riesengroß, hatte ein rotes Gesicht und eine weithin schallende Stimme. Er warf seiner lang berockten Mannschaft solche Ausdrücke an den Kopf, dass er besser gleich richtige Mutterflüche benutzt hätte. Oder sagt man vielleicht Dinge wie: »Willst du das Weihrauchfass in den Steiß?« Und was bitte ist denn »Weicheier« für ein Ausdruck?

Letztendlich ging Berditschewski in die Kabine, legte sich in seine Koje und bedeckte den Kopf mit einem Kissen. Er seufzte noch eine Zeit lang. Dann schlief er ein. Er hatte einen scheußlichen Traum.

Er war noch kein Kollegienrat, sondern der kleine Junge Mordka und rannte durch die Skornjaschnaja-Vorstadt, verfolgt von einer Horde schweigender, bärtiger Mönche, die, Weihrauchfässer schwingend, immer näher und näher kamen – er hörte das Poltern der Stiefel und ihren keuchenden Atem – , bis sie ihn eingeholt hatten und sich auf ihn stürzten. Er schrie: »Ich bin rechtgläubig, der Bischof selbst hat mich getauft!« Er riss sein Hemd auf, aber das kleine Kreuz an seiner Brust war nicht mehr da, er hatte es verloren. Matwej Benzionowitsch schluchzte auf und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Zwischenwand. Schlaftrunken tastete er nach seinem Brustkreuz, um dann einen Schluck Wasser zu nehmen und wieder in seine Koje zurückzusinken.

Am nächsten Morgen stand der stellvertretende Staatsanwalt mit seiner Plaidhülle am Bug des Schiffes, bleich und von edlem Fatalismus erfüllt: Tu, was du tun musst, komme, was da wolle. Aus dem dichten Nebel kam die Insel Kanaan auf ihn zu.

Zunächst war überhaupt nichts zu sehen. Dann tauchte aus dem milchigen Nebel plötzlich ein schwarzer, zottiger Buckel auf – ein kleiner, mit Gesträuch bewachsener Felsen. Dahinter erschien ein weiterer, kleinerer Felsen, und dann immer mehr. Die Umrisse einer dunklen, lang gezogenen Landzunge zeichneten sich ab, von der Glockengeläut in dumpf dröhnendem Wogen wie durch Watte herüberscholl.

Die Sonne versuchte, die aufgetürmten Wolken zu durchdringen: Hier und da war der Nebel von rosa oder sogar goldglänzendem Licht übergossen, aber das war weiter oben, näher beim Himmel, während es unten grau, trüb und dunkel war.

Während er über das Fallreep zu der kaum erkennbaren Anlegestelle hinunterkletterte, fühlte Matwej Benzionowitsch sich, als steige er in eine körperlose Wolke hinab. Von irgendwoher erschollen Stimmen und Geschrei: »Wer möchte in die ›Arche Noah‹, das allerbeste Hotel am Platze?« . . . »Zimmer in der »Zuflucht der Demütigen‹ zu vermieten, sehr günstig, nur ein Pappenstiel« und dergleichen mehr.

Berditschewski lauschte angestrengt und bewegte sich dann in Richtung eines feinen Knabenstimmchens, das die Reisenden in die Pension »Das Gelobte Land« zu locken versuchte. Selbstironisch fragte er sich: Wohin soll ein Jude denn sonst gehen?

Vor dem milchigen Hintergrund trat eine schlanke Gestalt mit einem breitkrempigen Hut mit Straußenfedern hervor, die aber sogleich wieder verschwand. Ein Kleid rauschte, Absätze klapperten, ein Hauch von Parfüm hing in der Luft – nicht »Maiglöckchen«, das Mascha immer benutzte, sondern ein besonderer, aufregender Duft. Mit einem Mal stach Matwej Benzionowitsch ein feiner, gleichsam eigens für ihn gesandter Sonnenstrahl ins Auge, und der Nebel löste sich rasch auf. Das heißt, er löste sich nicht auf, sondern er wurde von allen vier Seiten her zur Mitte hin zusammengeschoben, so wie man ein schmutziges Tischtuch vom Tisch nimmt, um es auszuschütteln.