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Verblüfft ob dieser ungestümen Veränderung sah Berditschewski, dass er mitten auf einer adretten Straße mit schönen Steinhäusern, einer hölzernen Fahrbahn und akkurat gepflanzten Bäumen stand; auf den Trottoiren flanierte das Publikum, und linker Hand, etwas oberhalb der Stadt, leuchteten die weißen Mauern des Klosters – ohne Türme und Glockentürme, so weit hatte sich das Nebeltuch noch nicht gelüftet.

Der Beamte blickte zurück, um die Dame zu betrachten, die allein durch ihr Erscheinen den Nebel vertrieben hatte, doch er konnte gerade noch eine auf dem Hut wippende Straußenfeder und einen spitzen Absatz erkennen, der unter der Schleppe eines Trauerkleides hervorblitzte, bevor sie um die Ecke bog.

Wie viele solcher flüchtigen Begegnungen es im Leben gibt, überlegte der stellvertretende Staatsanwalt, während er dem Jungen von der Pension folgte. Eine Verheißung, die sich nie erfüllen wird, streift mit raschelnder Feder deine Wange, betäubt deine Sinne und huscht davon. Tag für Tag Myriaden verpasster Gelegenheiten, nicht zustande gekommener Wendungen des Schicksals. Doch da gab es nichts zu seufzen, man musste den einmal eingeschlagenen Weg mit Würde gehen.

Und Berditschewskis Gedanken schlugen eine dienstliche Richtung ein.

Er würde die Sachen des Polizeimeisters und (der Beamte erschauerte in Gedanken) die Leiche in Augenschein nehmen. Vorher, noch aus der Pension, würde er dem Archimandriten und Doktor Korowin eine Notiz zukommen lassen, dass er als Ermittler eingetroffen sei und unverzüglich ein Treffen verlange. Bei Ersterem würde er sich für, sagen wir, zwei Uhr nachmittags ankündigen, bei Letzterem für fünf Uhr.

***

»Eintrittsöffnung etwa so groß wie eine Kopeke, zwischen der sechsten und siebten Rippe, drei Zoll unterhalb und einen halben Zoll links von der linken Brustwarze. Austrittsöffnung an einem heraustretenden, von der Kugel zersplitterten Wirbel (offenbar der siebte), etwa so groß wie ein Fünfkopekenstück. An anderen sichtbaren Verletzungen gibt es eine Beule, einen Zoll rechter Hand des Scheitels, die offenbar davon herrührt, dass der Kopf nach dem Fall des Körpers konvulsivisch auf den Boden auf geschlagen ist. . .«

Matwej Benzionowitsch hatte noch nie zuvor ein Protokoll einer Leichenschau erstellen müssen. Im Gouvernement waren dafür ein medizinischer Sachverständiger, ein polizeilicher Ermittlungsleiter sowie Beamte aus den niedrigeren Rängen der Staatsanwaltschaft zuständig. Hier in Neu-Ararat aber gab es in Ermangelung von Verbrechen und selbst einer Polizei niemanden, dem man diese schwierige Aufgabe hätte anvertrauen können. Berditschewski kannte die Terminologie zwar, aber nicht sehr gut, und so bemühte er sich, alles so detailliert wie möglich mit eigenen Worten zu beschreiben. Hin und wieder unterbrach er die Arbeit, um einen Schluck Wasser zu trinken.

Matwej Benzionowitsch hatte eine beschämende und bei seinem Beruf sogar schädliche Schwäche: Er hatte eine entsetzliche Angst vor Toten, besonders wenn sie halb verwest oder entstellt waren. Die Leiche von Oberst Lagrange – das musste man zugeben – sah noch vergleichsweise anständig aus. In den weißen, reglosen Gesichtszügen lag sogar eine gewisse Bedeutsamkeit, um nicht zu sagen Größe – eine Qualität, über die das Gesicht des Polizeimeisters zu Lebzeiten überhaupt nicht verfügt hatte. Weit mehr noch quälte Berditschewskis empfindsames Herz der Leichnam eines alten Mönchs, der auf einem Zinktisch neben dem Oberst lag. Zum einen war der Alte völlig nackt, und bei einer geistlichen Person wirkte dieser natürliche menschliche Zustand unziemlich. Schlimmer aber war, dass der Mönch während eines chirurgischen Eingriffs am Bauch gestorben war, weshalb man ihn zwar aufgeschnitten und sogar einen Teil der Eingeweide schon heraus genommen hatte, dann aber zu faul gewesen war, ihn wieder zuzunähen. Der stellvertretende Staatsanwalt hatte sich absichtlich so hingesetzt, dass er dem schauerlichen Toten den Rücken zuwandte, und doch verspürte er eine leichte Übelkeit. Daran, was er in der nächsten Nacht träumen würde, wollte er besser gar nicht erst denken.

Matwej Benzionowitsch kratzte mit der Feder und wischte sich häufig den Schweiß von der Glatze, obwohl es in der Leichenkammer keineswegs heiß war – aus der offen stehenden Tür zum Eiskeller, aus dem man den Tisch mit der Leiche des Polizeimeisters hereingerollt hatte, kam frostige Luft hereingeweht. Endlich war die unangenehmste Arbeit beendet. Der stellvertretende Staatsanwalt befahl, den Tisch in die Kälte zurückzurollen, und ging erleichtert ins Nebenzimmer, wo die Sachen des Selbstmörders aufbewahrt wurden.

»Wohin mit ihm?« erkundigte sich der Diener, der zu ihm hereintrat und die Hände an seinem speckigen Leibrock abwischte. »Auf die Erde, oder wird er hier begraben?«

Berditschewski verstand den Sinn der Frage nicht sogleich. Als ihm aber aufging, dass man mit »Erde« hier das Festland bezeichnete, war er unwillkürlich begeistert von der Klosterterminologie. Als sei man hier nicht auf einer Insel, sondern im Himmel.

»Wir werden ihn überführen. Wenn ich zurückfahre, nehme ich ihn mit. Wo sind die Sachen? Und seine Kleider?«

In der Reisetasche fand sich nichts Bemerkenswertes. Lediglich ein beeindruckender Vorrat an Pomade zum Fixieren des Schnurrbarts erregte die Aufmerksamkeit des Ermittlers sowie ein Pariser Album mit unanständigen Fotografien, das Felix Stanislawowitsch offenbar zur Zerstreuung mit auf die Reise genommen hatte. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort und ohne Zeugen hätte Matwej Benzionowitsch das frivole Büchlein gern selbst durchgeblättert, doch im Moment war ihm nicht danach zumute.

Besonders die Waffe interessierte den Ermittler – ein Revolver der Marke Smith & Wesson, Kaliber 45. Berditschewski roch daran und tastete innen am Lauf nach Schmauchspuren (vorhanden), prüfte die Trommel (fünf Kugeln steckten, eine fehlte). Dann legte er den Revolver zur Seite.

Er untersuchte die Kleider, die zu einem Stapel aufgeschichtet und einzeln nummeriert waren. Am Kleidungsstück Nr. 3 (Jackett) erkannte man unterhalb der linken Brusttasche ein kleines Loch mit verbrannten Rändern, wie es bei einem Schuss aus nächster Nähe zu erwarten war. Matwej Benzionowitsch verglich das Loch im Jackett mit denjenigen in den Kleidungsstücken Nr. 5 (Weste), Nr. 6 (wollenes Wams), Nr. 8 (Oberhemd) und Nr. 9 (Leibhemd). Alles passte ganz genau zusammen. Auf beiden Hemden und zum Teil auch auf dem Wams waren Blutspuren zu erkennen.

Kurzum, es bot sich ein eindeutiges Bild. Der Selbstmörder hatte die Waffe in der linken Hand gehalten und diese dabei ziemlich weit abgespreizt. Deshalb verlief der Schusskanal von links unten nach rechts oben. Das war einigermaßen merkwürdig – es wäre viel einfacher gewesen, den langläufigen Revolver mit beiden Händen am Griff zu packen und sich die Kugel direkt ins Herz zu schießen. Im Übrigen war auch die Tat selbst, milde ausgedrückt, merkwürdig, denn niemand, der bei klarem Verstand war, würde sich freiwillig durchlöchern. Wahrscheinlich hatte er einfach auf den Abzug gedrückt, und der Schuss war losgegangen . . .

»Und was ist das?«, fragte Berditschewski, der mit zwei Fingern einen weißen Damenhandschuh mit dem Schildchen Nr. 13 hochhielt.

»Ein Handschuh«, antwortete der Diener gleichmütig.

Seufzend formulierte der Staatsanwalt seine Frage genauer:

»Wie kommt der hierhin? Und warum ist er blutig?«

»Der Herr trug ihn an der Brust, unter dem Hemd.« Der Mönch zuckte die Schultern. »Weltlicher Tand.«

Die feine Seide wies bei näherer Betrachtung ebenfalls ein Loch auf.

Hm. Matwej Benzionowitsch entschied, sich mit Schlussfolgerungen bezüglich des Handschuhs vorläufig zurückzuhalten, doch er legte den interessanten Gegenstand zur Seite, zu den Briefen und dem Revolver. Die für das Untersuchungsverfahren notwendigen Gegenstände packte er in Lagranges Reisetasche (er musste sie schließlich irgendwie transportieren) und quittierte ihren Empfang mit seiner Unterschrift im Register.