Der Mönch im Nebenzimmer sang leise etwas vor sich hin, während er mit großen Stichen den Bauch des alten Mannes zunähte. Als er genauer hinhörte, verstand Berditschewski in etwa Folgendes:
»Ich klage und weine, denk ich an den Tod, seh ich sie im Sarge liegen, die nach Gottes Abbild geschaffene Schönheit, Hässlichkeit und Schmach . . .«
In der Jackentasche klingelte seine Breguet: einmal laut, zweimal leise. Ein ausgezeichneter Chronometer, ein echtes Wunderwerk schweizerischen Uhrmachergenies, das ihm Vater Mitrofani zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Das Klingeln bedeutete, dass es jetzt halb zwei Uhr mittags war – Zeit, den Klostervorsteher von Neu-Ararat aufzusuchen.
***
Die Unterhaltung mit Vater Witali gestaltete sich kurz und unangenehm.
Der Archimandrit empfing den Gouvernementsbeamten bereits höchst verärgert. Matwej Benzionowitsch hatte das natürlich so geplant: Mit dem jeden Widerspruch ausschließenden Ton seines Briefes und der genauen Zeitangabe hatte er den Klostervorsteher aus dem Gleichgewicht bringen wollen – einerseits, um ihm in Erinnerung zu rufen, dass es noch eine andere, höhere Macht gab als die seine, und andererseits, um Wi-tali zu Schroffheit und ungeschminkten Worten zu provozieren. Genauer betrachtet kommt man so den Dingen nämlich schneller auf den Grund als mit Verbeugungen oder verschleierten Andeutungen.
Nun, Schroffheit hatte Berditschewski bewirkt, sogar im Übermaß.
Seine Hochehrwürden marschierte an der Treppe zum prunkvollen Sitz des Klostervorstehers ungeduldig auf und ab; er trug eine uralte Kutte, die er aus irgendeinem Grunde fast bis zum Gürtel geschürzt hatte, sodass man seine hohen, schmutzigen Stiefel sehen konnte, und schwenkte seine Uhr, die die Form eines Zwiebelturms hatte.
»Ah, der Staatsanwalt!«, rief er, als er Berditschewski erblickte. »Es ist drei Minuten nach zwei. Sie lassen auf sich warten? Ist das nicht sehr unverschämt?«
Anstelle einer Antwort deutete Matwej Benzionowitsch, gleichfalls ohne ein Wort der Begrüßung, auf die allem Anschein nach erst kürzlich angebrachte Uhr, die den prächtigen Glockenturm schmückte. Es war gerade noch zu sehen, wie der Minutenzeiger auf die Zwölf sprang. Und in dem Moment erklang, wie mit Absicht, auch das Glockenspiel – alles in allem sehr effektvoll.
»Mir fehlt die Zeit, lange Gespräche zu führen, ich habe genug andere Sorgen!«, brüllte Witali noch wütender. »Wir werden uns auf dem Weg unterhalten. Da, da drüben.« Er deutete auf einen aus Balken zusammengezimmerten Schuppen, der jenseits der Klostermauer in der Ferne zu sehen war. »Wir reißen den alten Schweinestall ab und bauen einen neuen.«
Daher also die hochgeschürzte Kutte und die Kanonenstiefel. Die Audienz fand auf dem Viehhof statt, wo Schmutz und Unrat knöchelhoch lagen – Matwej Benzionowitschs Halbstiefel und seine Hose waren im Nu schmutzig.
Die Mönche zerrten mit Hakenstangen die Dachschindeln vom Schuppen herunter, und der Klostervorsteher beaufsichtigte das Ganze, sodass der Staatsanwalt sein Anliegen unter Krach, Gepolter und Geschrei erläutern musste, wobei Witali nicht allzu aufmerksam zuzuhören schien.
Das allein hätte gereicht, Berditschewskis Missfallen zu erregen, doch bald tauchte ein weiterer Umstand auf, der seine ursprüngliche Antipathie gegenüber dem Archimandriten auf ein Höchstmaß verstärkte. Mit einem bohrenden Blick, den Matwej Benzionowitsch nur allzu gut kannte und verstand, fixierte Vater Witali die Hakennase des Sawolshsker Emissärs, die knorpeligen Ohren und die unslawisch schwarzen, spärlichen Haare, und sein Gesicht nahm einen ganz eigentümlichen, angewiderten Ausdruck an.
Als er von der Untersuchung des Selbstmords und der Besorgnis der Gouvernementsbehörden über die eigenartigen Vorgänge in Neu-Ararat hörte, erklärte der Archimandrit finster:
»Ich sage, was ich denke. Sie können hinterher Verleumdungen schreiben, so viel Sie wollen – das kümmert mich nicht. Aber wagen Sie bloß nicht, Ihre lange Nase in geistliche Angelegenheiten zu stecken. Was den Selbstmord betrifft – machen Sie sich von mir aus mit dieser Schandtat zu schaffen, so viel Sie wollen. Aber alles andere geht Sie überhaupt nichts an.«
»Was soll das denn bedeuten?!« Der stellvertretende Staatsanwalt keuchte vor Empörung. »Aus welchem Grunde, Eure Hochehrwürden, wollen Sie mir befehlen, womit. . .«
»Aus folgendem Grunde«, unterbrach ihn Vater Witali. »Hier auf den Inseln bin ich das Oberhaupt, und ich trage die Verantwortung für alles. Umso mehr in den Fragen, die die Geistlichkeit betreffen. Für diese Dinge ist Ihre Nationalität nicht geeignet. Ich halte es für einen Affront von Seiten der Obrigkeit, dass man so jemanden als Ermittler nach Ararat schickt. Hier ist ein empfindsames, verwandtes, tiefgläubiges Herz vonnöten und nicht. . .«
Der Klostervorsteher sprach nicht zu Ende und spuckte aus. Das war eine noch größere Kränkung.
Berditschewski sah, dass die Sache auf einen offenen Eklat zusteuerte, und hielt sich zurück, ohne Witalis Unverschämtheit mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Erstens, heiliger Vater, gestatten Sie mir, Ihnen die Worte des Apostels Paulus in Erinnerung zu rufen, nach denen es keine Judäer und keine Hellenen gibt und wir alle eins in Christo sind«, sagte er leise. »Und zweitens bin ich ebenso rechtgläubig wie Sie.«
Matwej Benzionowitsch trug diese Worte so würdevoll und ruhig vor (obgleich er innerlich natürlich zitterte und brodelte), dass er selbst seine Freude daran hatte.
Aber kann man einen verbissenen Judophoben mit Würde packen?
»Unseren russischen Glauben kann nur ein Russe durch und durch verstehen und annehmen«, stieß Vater Witali mit verächtlich gekräuselten Lippen hervor. »Und besonders für jüdischen Hochmut und Egoismus ist der orthodoxe Glaube weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen zu erfassen. Fort mit euch, nehmt eure Krallen von den russischen Heiligtümern! Und was eure Taufe angeht, so heißt es im Volksmund: Ein getaufter Jud ist ein vergebener Dieb.«
Mit diesen Worten drehte der Archimandrit dem Staatsanwalt den Rücken zu, stapfte mit schmatzendem Geräusch durch den Dreck und verschwand im Stall – hoch gewachsen, schwarz, aufrecht und gerade wie eine Hopfenstange. Berditschewski verließ kochend vor Wut das Kloster.
Da das Gespräch so schnell vorbeigegangen war – es hatte keine zehn Minuten gedauert – , blieb bis zu seinem Treffen mit Doktor Korowin noch viel Zeit. Um sie nicht nutzlos zu vergeuden und sich zugleich bei einem Gang an der frischen Luft zu beruhigen, beschloss der stellvertretende Staatsanwalt, durch die Stadt zu spazieren und sich mit ihrer Topographie, ihren Gewohnheiten und Besonderheiten bekannt zu machen.
Es war erstaunlich: Dieselben Straßen, die auf Matwej Benzionowitsch beim ersten Augenschein einen sauberen, gepflegten und ordentlichen Eindruck gemacht hatten, schienen ihm jetzt unheimlich, ja unheilvoll. Der Blick des Ankömmlings ruhte nun mehr und mehr auf den unfreundlich zusammengepressten Lippen der Pilger, auf den im Überfluss vorhandenen Kirchen, Kirchlein und kleinen Kapellen, auf der ethnischen Einheitlichkeit der Menschen, die ihm begegneten: Niemand, der eine dunkle Haut, schwarze Augen und eine Hakennase gehabt oder wenigstens geschielt hätte, sie alle waren Großrussen, blond, mit grauen Augen und Stupsnasen.
Niemals zuvor hatte Berditschewski eine so heftige, ausweglose Einsamkeit verspürt wie in diesem Paradies der Rechtgläubigen. War es denn ein Paradies? Ein Dutzend hoch gewachsener Mönche mit Knüppeln am Gürtel kam an ihm vorbeimarschiert – ein schöner Garten Eden unter der Knute dieses Reaktionärs Vater Witali, der alles Andersdenkende bekämpfte. In den Buchhandlungen wurde ausschließlich geistliche Lektüre verkauft, an Zeitungen gab es nur den »Kirchenboten«, die »Fackel der Rechtgläubigkeit« und den »Bürger« des Fürsten Meschtscherski. Es gab weder ein Theater noch ein Blasorchester im Park oder, Gott behüte, einen Tanzsaal. Dafür gab es Essen in Hülle und Fülle. Essen und beten – das ist euer ganzes Paradies, wütete Matwej Benzionowitsch in Gedanken.