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Als sich aber sein Gefühl der Beleidigung und seine Wut auf den Archimandriten ein wenig gelegt hatten, überlegte Berditschewski getreu der Maxime der Intelligenzija audiatur et altera pars, dass Witali im Grunde genommen nicht einmal so Unrecht hatte, was die Beurteilung seiner, Berditschewskis, Person anging. Ja, er war hochmütig. Ja, er war ein Skeptiker, der nicht einfach naiv und offenherzig glauben konnte. Und wenn er freimütig und sich selbst gegenüber vollkommen aufrichtig war, dann beruhte seine ganze Religiosität nicht auf der Liebe zu Jesus, den Matwej Benzionowitsch niemals mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern auf der Liebe zu Bischof Mitrofani. Das heißt, angenommen, Berditschewskis geistlicher Vater wäre kein orthodoxer Bischof, sondern ein weiser Scheich oder ein buddhistischer Meister, dann würde der Kollegienrat jetzt mit einem Turban oder mit einem kegelförmigen Strohhut herumlaufen. Bloß hätten Sie damit im Russischen Reich keine Karriere machen können, gnädiger Herr, setzte Matwej Benzionowitsch für sich selbst noch eins drauf und versank endgültig in Selbsterniedrigung.

Nun wurde ihm erst recht mulmig, weil sich der irdischen Einsamkeit – die eine zeitweilige war und sich lediglich auf die Insel Kanaan beschränkte – noch die metaphysische hinzugesellte. Herr, vergib mir Kleingläubigkeit und Zweifel, betete der verstörte stellvertretende Staatsanwalt, und er blickte sich nach allen Seiten um, ob sich nicht vielleicht eine Kirche in der Nähe befände, um vor dem Antlitz des Erlösers so schnell wie möglich um Vergebung zu bitten.

Es konnte gar nicht anders sein – schließlich war er in Neu-Ararat und nicht in Petersburg. Ganz in der Nähe, nur zwanzig Schritt entfernt, war eine kleine Kirche, und noch näher, eigentlich direkt vor seiner Nase, an der Wand der Klosterschule, hing eine große Ikone unter einem Schutzdach aus Blech, und zwar nicht irgendeine, sondern die des »Erlösers, nicht von Menschenhand gemalt«. In diesem Zusammentreffen erblickte Matwej Benzionowitsch ein Zeichen von oben, und so ging er nicht erst bis zur Kirche. Er ließ sich vor der Ikone auf die Knie fallen (die Hose war nach seinem Ausflug auf den Viehhof ohnehin verdorben, und er würde sich umziehen müssen) und begann zu beten – so leidenschaftlich und inbrünstig wie nie zuvor.

Herr, betete Berditschewski, sende mir den einfachen, kindlichen, vorurteilslosen Glauben, damit er mich auf immer unterstütze und mich in der Versuchung nicht verlasse. Lass mich an die Unsterblichkeit der Seele und an das Leben nach dem Tode glauben, lass Weisheit die Eitelkeit ablösen, lass mich nicht stündlich um meine Lieben bangen, sondern an die Ewigkeit denken, lass mich standhaft bleiben vor der Versuchung, lass mich . . . Es wurde ein langes Gebet, denn Matwej Benzionowitsch hatte eine Vielzahl von Bitten an den Allerhöchsten, und sie alle aufzuzählen, wäre langweilig.

Niemand störte den Beter, niemand starrte den anständigen Herrn, der sich die Knie auf dem Trottoir durchscheuerte, an – die Passanten machten einen respektvollen Bogen um ihn, umso mehr, als derartige Szenen für Neu-Ararat völlig normal waren.

Das Einzige, was den Staatsanwalt von der seelenreinigenden Beschäftigung ablenkte, war ein klingendes Kinderlachen, das von der Treppe der Schule herüberdrang. Dort, inmitten einer Horde kleiner Jungen, saß ein Mann mit einem weichen Hut, und die Schlingel hatten offenkundig ihren Spaß mit ihm – und er mit ihnen. Berditschewski blickte sich einige Male verdrossen nach dem Lärm um, sodass er Gelegenheit hatte, einige Besonderheiten im Gesicht dieses Kinderfreunds zu bemerken – es war ein überaus angenehmes, offenes und ein wenig einfältiges Gesicht.

Als Matwej Benzionowitsch schließlich seine Tränen abwischte und sich von den Knien erhob, kam der Unbekannte auf ihn zu; höflich zog er seinen Hut und begann sich zu entschuldigen:

»Ich bitte um Verzeihung, dass wir Ihr Gebet durch unser Geschwätz gestört haben. Die Kinder lassen mir keine Ruhe und fragen mich immerzu über allerlei Dinge aus. Es ist erstaunlich, wie wenig ihnen die Lehrer erklären, zumal was das Allerwichtigste betrifft. Sie haben Angst, den Lehrern zu viele Fragen zu stellen, alle Lehrer hier sind Mönche, und zwar überaus strenge. Aber vor mir haben sie keine Angst«, lächelte der Mann, und an diesem Lächeln wurde deutlich, dass es wahrlich keinen Grund gab, ihn zu fürchten. »Entschuldigen Sie, dass ich so ohne weiteres auf Sie zugekommen bin. Ich bin überaus gesprächig, wissen Sie, und Sie haben mich mit der Aufrichtigkeit Ihres Gebets sehr beeindruckt. Es kommt nicht oft vor, dass man einen gebildeten Mann so inbrünstig und mit Tränen in den Augen vor der Ikone sieht. Zu Hause, im stillen Kämmerlein, mag das noch angehen, aber hier auf offener Straße! Sie haben mir sehr gefallen.«

Berditschewski machte eine leichte Verbeugung und wollte weitergehen, doch nach einem genaueren Blick auf den Unbekannten kniff er die Augen zusammen und erkundigte sich vorsichtig:

»Ehern, gestatten Sie, gnädiger Herr, dass ich nach Ihrem Vor-und Vatersnamen frage? Sie heißen nicht zufällig Lew Nikolajewitsch?«

Von seiner Art und seiner äußeren Erscheinung her hatte der sympathische Herr eine große Ähnlichkeit mit dem Literaturliebhaber aus Aljoscha Lentotschkins Brief. Berditschewski, ein leidenschaftlicher Schachspieler, verfügte über ein hervorragendes Gedächtnis, und dieser Name war nicht schwer zu behalten – der gleiche Vor – und Vatersname wie bei Graf Tolstoj.

Der Mann wunderte sich, wenn auch nicht übermäßig – er machte ohnehin den Eindruck, als rechne er ständig damit, dass das Leben für ihn Überraschungen, zudem meist freudige, bereithielt.

»Ja, so heiße ich. Und woher wissen Sie das?«

Auch in dieser zufälligen Begegnung vermeinte der aufgeklärte Berditschewski göttliche Vorsehung zu erkennen.

»Wir haben einen gemeinsamen Bekannten, Alexej Stepanowitsch Lentotschkin. Das ist der Herr, der Ihnen ein Buch geschenkt hat, ein Werk von Fjodor Dostojewski.«

Auch angesichts dieser übernatürlichen Kenntnisse bekundete Lew Nikolajewitsch nur mäßige Verwunderung.

»Ja, ich erinnere mich sehr gut an diesen bedauernswerten jungen Mann. Wissen Sie, dass ihm ein Unglück zugestoßen ist? Er hat den Verstand verloren.«

Matwej Benzionowitsch sagte darauf gar nichts, sondern gab nur mit den Augenbrauen seiner Verblüffung Ausdruck: Nein, was Sie nicht sagen!

»Wegen des schwarzen Mönchs.« Der Gesprächspartner senkte die Stimme. »Er ging nachts in diese Hütte, wo ein Kreuz auf die Fensterscheibe geritzt ist, und verlor den Verstand. Er hat dort irgendetwas gesehen. Und an genau derselben Stelle hat sich später ein anderer Mann, den ich ebenfalls flüchtig kannte, mit einer Pistole erschossen. O je, was habe ich da ausgeplaudert! Das ist doch ein Geheimnis«, erschrak Lew Nikolajewitsch. »Man hat es mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, und ich habe mein Wort gegeben. Bitte erzählen Sie es nicht weiter, einverstanden?«

So, so, sagte sich der Ermittler, während er hartnäckig seine ‘ Nasenwurzel rieb, um das heftige Pulsieren seines Blutes zu beruhigen. So, so.

»Ich werde es niemandem sagen«, versprach er und heuchelte ein leicht gelangweiltes Gähnen. »Aber wissen Sie, Sie sind mir ebenfalls sehr sympathisch. Zudem haben wir jetzt noch einen weiteren gemeinsamen Bekannten entdeckt. Hätten Sie nicht Lust, mit mir eine Tasse Tee oder Kaffee zu trinken? Wir könnten uns über dies und das unterhalten. Von mir aus auch über Dostojewski.«

»Es wäre mir eine Ehre!«, freute sich Lew Nikolajewitsch. »Wissen Sie, man trifft hier so selten belesene, kultivierte Menschen. Und schließlich finden nicht alle es interessant, sich mit mir zu unterhalten. Ich bin weder klug noch gebildet und rede manchmal dummes Zeug. Wir können in den ›Barmherzigen Samariter‹ gehen. Dort gibt es ganz originellen Tee, mit einem leichten Rauchgeschmack. Und gar nicht teuer.«