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Berditschewski wäre bereitwillig sofort mitgegangen, um sich mit dem neuen Bekannten zu unterhalten, doch die Breguet in seiner Tasche klingelte viermal laut und einmal leise. Es war bereits Viertel nach vier – da konnte man sehen, wie lange er gebetet hatte.

»Teuerster Lew Nikolajewitsch, ich habe eine unaufschiebbare Verabredung, die etwa zwei oder drei Stunden in Anspruch nehmen wird. Wenn wir uns vielleicht danach treffen könnten . . .« Der stellvertretende Staatsanwalt verlieh seinen Worten eine fragende Intonation und wartete das Kopfnicken seines Gegenübers ab, bevor er weitersprach: »Ich heiße Matwej Benzionowitsch, und heute Abend, wenn wir uns treffen, werde ich Ihnen mehr von mir erzählen. Wo finde ich Sie?«

»Bis sieben Uhr spaziere ich gewöhnlich in der Stadt umher, ich sehe mir die Leute an und denke über das nach, was mir gerade so einfällt«, erklärte der wertvolle Zeuge. »Um sieben nehme ich im Wirtshaus ›Zu den fünf Broten‹ das Abendessen ein, und danach sitze ich, wenn es nicht regnet und kein starker Wind bläst – aber heute ist ein klarer Tag, wie Sie sehen – irgendwo auf einer Bank am See. Meist bleibe ich lange da sitzen, manchmal bis zehn Uhr . . .«

»Ausgezeichnet«, unterbrach Berditschewski ihn. »Da treffen wir uns. Nennen Sie mir einen Ort. . .«

Lew Nikolajewitsch überlegte ein wenig.

»Treffen wir uns an der Uferstraße, bei der Rotunde, damit wir uns nicht verpassen. Kommen Sie auch gewiss?«

»Da können Sie ganz sicher sein«, lächelte der stellvertretende Staatsanwalt.

***

Matwej Benzionowitsch wischte sich die feuchte Stirn ab und griff sich ans Herz. Maschenka hatte ja so Recht, eigentlich müsste er Gymnastik treiben und auf dem Fahrrad fahren, wie alle aufgeklärten Menschen, die sich um ihre körperliche Gesundheit sorgen. Wo gibt es denn so etwas – mit achtunddreißig Jahren schon einen Schmerbauch und Atemnot und völlig unbeweglich!

»Alexej Stepanytsch, also wirklich, genug herumgespielt, es reicht jetzt!«, rief er in Richtung der tropischen Gewächse, wo das Getrappel flinker, bloßer Füße zu vernehmen war. »Ich bin es, Berditschewski, Sie kennen mich doch gut! Bischof Mitrofani schickt mich zu Ihnen!«

Dieses Spiel – Berditschewski wusste nicht, ob sie Verstecken oder Fangen spielten, wahrscheinlich beides zusammen – , zog sich nun schon sehr lange hin, und der stellvertretende Staatsanwalt war bereits völlig erschöpft.

Donat Sawwitsch Korowin war am Eingang zum Palmenhaus stehen geblieben. Er rauchte eine Zigarre und beobachtete mit Interesse die Manöver der beiden Seiten. Matwej Benzionowitsch hatte Lentotschkin selbst noch gar nicht gesehen, doch der Junge war sicher hier, ein – oder zweimal war hinter dem breiten, glänzenden Blattwerk eine nackte Schulter aufgeblitzt.

»Warten Sie, gleich geht ihm die Luft aus«, sagte der Doktor. »Er wird von Tag zu Tag schwächer. Vor einer Woche, als ich ihn untersuchen musste, sind die Pfleger eine halbe Stunde hinter ihm hergelaufen, sie mussten ihn sogar von einer Palme herunterholen. Vorgestern reichten dazu fünfzehn Minuten, und gestern zehn. Das ist schlecht.«

Er hätte mir auch seine Pfleger leihen können, dachte der Staatsanwalt verärgert. Er will mir wohl demonstrieren, dass die Gouvernementsbehörden einer weltberühmten Koryphäe nichts zu sagen haben. Sicher war der Doktor über den Ton des Briefes beleidigt, wie der Klostervorsteher auch.

Berditschewski gefiel aber der Doktor, im Unterschied zum Archimandriten, schon eher. Er war ruhig, tüchtig, ein wenig spöttisch, aber ohne zu provozieren. Er hatte den Ermittler angehört und einen vernünftigen Vorschlag gemacht: »Sehen Sie sich Ihren Lentotschkin zuerst einmal an, und dann kommen wir wieder hierher und unterhalten uns weiter.«

Doch war es, wie bereits gesagt, gar nicht so einfach, sich Alexej Stepanowitsch anzusehen.

Ein paar Minuten später gelang es, den menschenscheuen Dschungelbewohner in eine Ecke zu drängen, und da endlich fand die Lauferei ein Ende. Aus einem dichten, mit unnatürlich blauen Blüten übersäten Gebüsch (hinter dem nur noch die Glaswand war) kam ein Lockenkopf mit erschrocken aufgerissenen blauen Augen zum Vorschein. Der Junge war sehr abgemagert und hatte seine rosige Gesichtsfarbe verloren, bemerkte Matwej Benzionowitsch, und seine Haare hingen zerzaust herunter.

»Lasst mich«, sagte Aljoscha mit weinerlicher Stimme. »Bald fliege ich in den Himmel. Dann kommt Er nämlich und holt mich. Wartet noch ein wenig.«

Auf Anraten von Donat Sawwitsch trat der Staatsanwalt nicht näher an den Kranken heran, um nicht einen Anfall auszulösen. Er blieb stehen, breitete die Arme aus und begann so sanft wie möglich:

»Alexej Stepanowitsch, ich habe Ihren letzten Brief noch einmal gelesen, in dem Sie von der magischen Formel und vom Häuschen des Bakenwärters schreiben. Erinnern Sie sich, was dort passiert ist, in dem Haus?«

Von hinten feixte Korowin:

»Sie sind ja von der schnellen Truppe! Er wird Ihnen bestimmt sofort alles erzählen!«

»Geh nicht dahin«, sagte Aljoscha plötzlich mit dünner Stimme zu Berditschewski. »Du wirst umkommen.«

Der Doktor kam näher und stellte sich neben den stellvertretenden Staatsanwalt.

»Pardon«, flüsterte er. »Ich hatte Unrecht. Sie haben eine besondere Wirkung auf ihn.«

Ermuntert durch seinen Erfolg, machte Matwej Benzionowitsch einen halben Schritt nach vorn.

»Alexej Stepanowitsch, mein Lieber, der Bischof ist Ihretwegen um seine Ruhe und seinen Schlaf gebracht. Er kann es sich nicht verzeihen, Sie hierher geschickt zu haben. Lassen Sie uns zu ihm fahren. Er hat mir befohlen, nicht ohne Sie zurückzukehren. Sollen wir fahren, ja?«

»Ja«, murmelte Aljoscha.

»Und uns über jene Nacht unterhalten, ja?«

»Ja.«

Berditschewski blickte sich triumphierend nach dem Arzt um: Wie hatte er das gemacht? Der aber runzelte besorgt die Stirn.

»Ihnen ist dort gewiss etwas Ungeheuerliches zugestoßen, ja?« Matwej Benzionowitsch verfolgte seine Linie so behutsam wie ein Fischer, der seine Angelschnur auslegt.

»Ja.«

»Ihnen ist Wassilisk erschienen, ja?«

»Ja.«

»Und er hat sie erschreckt, ja?«

»Ja.«

Der Doktor zog den Ermittler zur Seite.

»Warten Sie. Er wiederholt doch immer nur Ihr letztes Wort, merken Sie das denn nicht? Diese Angewohnheit zeigt er seit etwa drei Tagen. Rezitative Obsession. Er kann sich immer nur für einen Moment konzentrieren. Er hört Sie gar nicht.«

»Alexej Stepanowitsch, hören Sie mich?«, fragte der stellvertretende Staatsanwalt.

»Mich«, wiederholte Lentotschkin, und es wurde klar, dass Donat Sawwitsch leider Recht hatte.

Matwej Benzionowitsch seufzte enttäuscht.

»Was passiert mit ihm?«

»Eine Woche, vielleicht zwei, und . . .« Der Doktor schüttelte beredt den Kopf. »Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, heißt das.«

»Was für ein Wunder?«

»Wenn ich nicht ein Mittel entdecke, mit dem man den Krankheitsprozess aufhalten und umkehren kann. Nun gut, gehen wir. Sie werden nichts aus ihm herausbekommen, ebenso wenig wie Ihr Vorgänger.«

In Korowins Kabinett zurückgekehrt, sprachen sie nicht mehr über den unglücklichen Alexej Stepanowitsch, sondern über Berditschewskis »Vorgänger«, also über den verstorbenen Lagrange.

»Von Berufs wegen müsste ich eigentlich ein guter Physiognom sein«, sagte Donat Sawwitsch, wobei er bald auf Berditschewski, bald aus dem Fenster blickte. »Und ich täusche mich nur sehr, sehr selten in einem Menschen. Doch ich muss zugeben, Ihr Polizeimeister hat mich mit seinem Unfug in Verlegenheit gebracht. Ich hätte mich mit Gewissheit dafür verbürgt, dass er ein ausgeglichener Typ mit ausgeprägter Selbstachtung und primitiv-sachlicher Weltanschauung ist. Diese Typen neigen weder zum Suizid noch zu psychotraumatischen Geistes-Verwirrungen. Wenn sie Selbstmord begehen, dann vielleicht aus einer vollkommen ausweglosen Lage heraus – aus Angst vor einer schmachvollen gerichtlichen Untersuchung etwa, oder wenn ihnen durch eine verschleppte Syphilis die Nase einfällt und sie ihre Sehkraft verlieren. Wenn Menschen wie er den Verstand verlieren, dann aus ganz banalen, langweiligen Gründen: Der Vorgesetzte hat sie im Dienst übergangen, oder der Lotteriegewinn ist auf die nächstfolgende Losnummer gefallen – es gab mal so einen Fall mit einem Dragonerhauptmann. Jemanden wie Ihren Lagrange würde ich nie als Patienten annehmen. Uninteressant.«