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Er zerrte Berditschewski hinter sich her, und zwar so energisch, dass der verschüchterte Beamte sich kaum losreißen konnte.

»Beruhigen Sie sich, Sergej Nikolajewitsch, beruhigen Sie sich«, kam ihm der Doktor zu Hilfe. »Jetzt werde ich mich mit Matwej Benzionowitsch noch zu Ende unterhalten, und dann schicke ich ihn zu Ihnen ins Laboratorium. Gehen Sie schon vor, warten Sie dort.«

Als der Patient, vor sich hin murmelnd und mit den Armen herumfuchtelnd, verschwunden war, flüsterte Donat Sawwitsch mit Furcht einflößendem Blick:

»Sie haben höchstens fünf Minuten, um das Gelände der Heilanstalt zu verlassen. Sonst kommt Ljampe zurück, und so leicht werden Sie ihn dann nicht wieder los.«

Es war ein gut gemeinter Ratschlag, und Berditschewski hielt es für klug, ihn zu befolgen, umso mehr, als es ihm nicht notwendig schien, sich weiter in der Klinik aufzuhalten.

***

Matwej Benzionowitsch schritt über den mit gelben Ziegeln gepflasterten Weg, der sich zwischen sanft abfallenden, bewaldeten Hügeln entlangschlängelte – es musste wohl derselbe sein, den eine Woche zuvor der unglückliche Lagrange genommen hatte, als er Doktor Korowin verließ. Was war in der Seele des todgeweihten Polizeimeisters vorgegangen? Hatte er gewusst, dass er seinen letzten Tag auf dieser Welt verbrachte? Woran hatte er gedacht, als er hinunterblickte auf die Stadt, das Kloster, den See?

Es war eigentlich nicht schwer, sich Felix Stanislawowitschs Gedankengang vorzustellen. Vermutlich war er gegen Abend schon fest entschlossen, der interessanten Hütte einen nächtlichen Besuch abzustatten und zu überprüfen, welche unreine Kraft sich da einen Zugang zur Welt der Menschen verschafft hatte. Das sah dem wackeren Oberst ähnlich! Einfach mit dem Kopf durch die Wand, komme, was da wolle.

Na, aber wir werden anders vorgehen, beschloss der stellvertretende Staatsanwalt, obwohl natürlich auch wir dieses bedeutsame Häuschen nicht außer Acht lassen wollen. Zuallererst nehmen wir es bei Tageslicht in Augenschein – das heißt, nicht mehr heute, sondern morgen, denn es wird bereits dunkel, und außerdem brauchen wir Zeugen.

Und weiter? Er würde die Fensterscheibe mit dem Kreuz aus dem Rahmen herausschneiden und nach Sawolshsk schicken, um eine Expertise anfertigen zu lassen.

Nein, das würde zu lange dauern. Besser würde er Semjon Iwanowitsch herkommen lassen, zusammen mit drei oder vier Polizeibeamten, die etwas von ihrer Sache verstanden, damit er nicht von diesem niederträchtigen Witali und seinen Friedenswächtern abhängig wäre. Man müsste in der Hütte und davor rund um die Uhr Wachposten aufstellen. Und dann werden wir ja sehen, was an diesem Teufelswerk dran ist.

Hm, sagte sich Berditschewski plötzlich, und er blieb stehen. Ich denke ja selbst schon wie ein waschechter Duckmäuser. Als wüsste ich nicht, dass man, wenn es hier wahrhaftig um mystische Dinge geht, sehr leicht den dünnen Faden zur irdischen Realität zerreißen kann. Da haben wir ihn, den gordischen Knoten, gegen den ich gekämpft habe.

Lagrange, Gott hab ihn selig, war ein Holzkopf, aber selbst er hat begriffen, dass man übernatürliche Phänomene nur allein, Auge in Auge, ohne Zeugen und Polizeibeamte, beobachten kann. Um der Genauigkeit des Experiments willen muss man so vorgehen, wie Lentotschkin schrieb: Man muss allein sein, sich nackt ausziehen und die magische Formel sprechen. Und erst, wenn nichts Besonderes passiert, kann man mit fester materialistischer Überzeugung eine Untersuchung mit den gewöhnlichen Mitteln durchführen.

Matwej Benzionowitsch wusste selbst, dass diese Überlegungen in den Bereich der Spekulation gehörten, weil er nachts nirgendwohin gehen würde, und schon gar nicht an einen Ort, an dem ein Mann den Verstand verloren und ein anderer sich eine Kugel ins Herz gejagt hatte.

Sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, wäre dumm, ja lächerlich, und vor allem unverantwortlich gegenüber Mascha und den Kindern.

Von hier aus wandten sich Berditschewskis Gedanken natürlicherweise seiner Familie zu.

Er dachte an seine Frau, die seinem Leben Fülle, Sinn und Glück verliehen hatte. Wie lieb und gut Mascha war, besonders während der Schwangerschaft, auch wenn ihre Augen in dieser Zeit gerötet und die Lider von feinen Äderchen durchzogen waren, auch wenn ihre Nase sich wie ein Entchen vorstülpte. Der stellvertretende Staatsanwalt dachte lächelnd daran, wie gerne Mascha sang, obwohl sie überhaupt kein musikalisches Gehör hatte, er lächelte beim Gedanken an ihre abergläubische Furcht vor den Scharten im Mond und vor roten Kakerlaken, an die widerspenstige Locke im Nacken und eine Vielzahl anderer Kleinigkeiten, die nur für diejenigen eine Bedeutung haben, die lieben.

Die älteste Tochter, Katjenka, kam Gott sei Dank nach ihrer Mutter. Sie war ebenso energisch wie diese, sie ruhte ebenso in sich selbst, wusste ebenso genau, was sie wollte und wie sie es erreichen konnte.

Die zweite Tochter, Ljudmilotschka, schlug eher nach dem Vater – sie weinte gerne, war mitfühlend und empfindsam gegenüber der Natur. Sie würde es schwer haben im Leben. Wenn Gott ihr doch einen liebevollen, gütigen Bräutigam geben würde!

Die dritte Tochter, Nastjenka, versprach ein echtes musikalisches Talent zu werden. Wie federleicht ihre rosigen Fingerchen über die Tasten glitten! Wenn sie herangewachsen wäre, würde man sie unbedingt nach Petersburg bringen und Iossif Solomonowitsch vorstellen müssen.

Das gedankliche Inventarisieren seiner zahlreichen Familienmitglieder war Berditschewskis liebster Zeitvertreib, doch dieses Mal kam er nicht einmal bis zur vierten Tochter, Lisanka. Hinter einer Wegbiegung hervor kam Berditschewski eine Reiterin auf einem Rappen entgegen, und diese Erscheinung war so unerwartet, so unvereinbar mit dem gedämpften Geläut der Klosterglocken und der eintönigen Landschaft, dass Matwej Benzionowitsch erstarrte.

Der Hengst trabte leicht zur Seite geneigt dahin, wie es reinrassige und besonders übermütige Pferde gelegentlich machen, sodass der stellvertretende Staatsanwalt die wie eine Amazone zu Pferd sitzende Reiterin von oben bis unten betrachten konnte – von dem Hütchen mit dem Schleier bis zu den Spitzen ihrer Lackstiefel.

Als sie auf gleicher Höhe mit dem Fußgänger war, sah sie ihn von oben herab an, und unter dem pfeilspitzen Blick ihrer schwarzen Augen erbebte der besonnene Staatsanwalt am ganzen Körper.

Das war sie, ohne jeden Zweifel! Die Unbekannte, die allein durch ihr Erscheinen die Nebeldecke von der Insel gefegt hatte. Ein Kardinalsbirett aus purpurrotem Samt hatte den Hut mit den Straußenfedern abgelöst, doch sie trug noch immer ein Trauerkleid, und Berditschewskis feine Nase roch das bekannte Aroma ihres Parfüms, aufregend und gefährlich.

Matwej Benzionowitsch blieb stehen und ließ seinen Blick über die graziöse Reiterin schweifen. In der rechten Hand hielt sie eine Reitgerte, mit der sie die glänzende Kruppe des Pferdes weniger schlug, als dass sie sie sacht streichelte, und in der linken Hand hielt sie ein spitzenbesetztes Taschentuch.

Mit einem Mal riss sich der leichte Stofffetzen los, wie ein verspielter Schmetterling flatterte er durch die Luft, um sich dann am Wegrand niederzulassen. Die Amazone bemerkte den Verlust nicht und galoppierte davon, ohne sich nach dem wie versteinert dastehenden Mann umzusehen.

Mag es da liegen bleiben, warnte Berditschewskis gesunder Menschenverstand, oder wohl eher sein Selbsterhaltungstrieb. Das Unerfüllbare wird ja eben deshalb so genannt, weil es nicht in Erfüllung gehen kann.

Doch seine Füße trugen Matwej Benzionowitsch bereits von selbst zu dem hinuntergefallenenen Taschentuch.

»Gnädige Frau, warten Sie!«, schrie der Ermittler mit sich überschlagender Stimme. »Ihr Taschentuch! Sie haben Ihr Taschentuch verloren!«

Er musste dreimal rufen, bevor die Reiterin sich umwandte. Als sie begriff, was er wollte, nickte sie und kehrte um. Während sie gemächlich näher ritt, musterte sie den Herrn im Palmerston und den schmutzigen Halbstiefeln mit einem merkwürdigen halb fragenden, halb spöttischen Lächeln.