»Ich danke Ihnen«, sagte sie und zügelte ihr Pferd, ohne die Hand nach dem Taschentuch auszustrecken. »Sie sind sehr liebenswürdig.«
Berditschewski reichte ihr das Tuch und starrte begierig in das betörende Gesicht der Dame – oder war sie ein Fräulein? Diese tiefen, leicht mandelförmigen Augen! Die kühne Linie des Mundes, das widerspenstige Kinn und der bittere, kaum merkliche Schatten unter den Wangenknochen.
Doch er musste jetzt etwas sagen. Er konnte sie nicht einfach nur anstarren.
»Ein Batisttüchlein . . . Es wäre schade, wenn Sie es verloren hätten«, murmelte der stellvertretende Staatsanwalt, und er spürte, dass er rot wurde wie ein kleiner Junge.
»Sie haben kluge Augen. Empfindsame Lippen. Ich habe Sie noch nie zuvor hier gesehen.« Die Amazone strich dem Rappen über den samtweichen Hals. »Wer sind Sie?«
»Berditschewski«, stellte er sich vor, und er konnte sich gerade noch zurückhalten, seine Funktion zu erklären – aber vielleicht hätte das die Schöne wenigstens bewogen, ihn nicht mehr so spöttisch anzusehen?
Anstatt seine Funktion zu nennen, begnügte er sich mit dem Rang:
»Kollegienrat.«
Aus irgendeinem Grunde fand sie das lustig.
»Kollegienrat?« Die Unbekannte fing an zu lachen und zeigte ihre weißen, ebenmäßigen Zähne. »Ich könnte jetzt gut einen Ratgeber gebrauchen. Oder einen Berater? Ach, einerlei. Geben Sie mir einen Rat, verehrter Kollegienberater, was fängt man mit einem verpfuschten Leben an?«
»Um wessen Leben handelt es sich?«, fragte Matwej Benzionowitsch heiser.
»Um meines. Vielleicht aber auch um Ihres. Sagen Sie, Herr Berater, könnten Sie Ihr ganzes Leben auslöschen, vernichten – um eines einzigen Augenblicks willen? Nicht einmal um eines Augenblicks, sondern um der Hoffnung auf einen Augenblick willen, die sich möglicherweise nicht erfüllt?«
Berditschewski stammelte:
»Ich verstehe Sie nicht. . . Sie sagen eigenartige Dinge.«
Doch er hatte sehr wohl verstanden, er hatte alles bestens verstanden. Das, was ihm auf gar keinen Fall passieren konnte, weil sein ganzes Leben so gänzlich anders verlief, war auf einmal nah, sehr nah. Ein Augenblick? Eine Hoffnung? Und was war mit Mascha?
»Glauben Sie an das Schicksal?« Die Reiterin lächelte jetzt nicht mehr, ihre reine Stirn hatte sich umwölkt, die Reitgerte schlug fordernd auf die Kruppe des Pferdes, und der Rappe trat nervös von einem Bein auf das andere. »Daran, dass alles vorherbestimmt ist und dass es keine zufälligen Begegnungen gibt?«
»Ich weiß nicht. . .«
Dafür wusste er, dass er zugrunde ging, und er war bereit dazu, er sehnte es sogar herbei. Der orangefarbene Streifen des Sonnenuntergangs breitete sich zu beiden Seiten des schwarzen Pferdes aus, als seien diesem plötzlich Feuerflügel gewachsen.
»Ich glaube daran. Ich habe das Tuch fallen lassen, Sie haben es aufgehoben. Vielleicht ist es auch gar kein Tuch?«
Der stellvertretende Staatsanwalt blickte zerstreut auf das Stück Stoff, das er noch immer fest zwischen den Fingern hielt, und er dachte: Ich stehe hier wie ein Bettler mit ausgestreckter Hand.
Die Stimme der Reiterin nahm einen drohenden Klang an:
»Wollen Sie, dass ich jetzt das Pferd wende und davongaloppiere? Dass Sie mich nie Wiedersehen? Dann werden Sie nie erfahren, wer wen betrogen hat – Sie das Schicksal oder das Schicksal Sie.«
Sie riss am Zaumzeug, wandte sich um und hob die Reitgerte.
»Nein!«, rief Matwej Benzionowitsch, der Mascha, seine zwölf Kinder und das kommende, dreizehnte, mit einem Schlag vergessen hatte – so unerträglich erschien ihm der Gedanke, die merkwürdige Amazone könnte davonpreschen und ein für alle Mal in der immer dichter werdenden Dunkelheit verschwinden.
»Dann halten Sie sich am Steigbügel fest, ganz fest, sonst fallen Sie hin!«, befahl sie.
Wie verzaubert klammerte Berditschewski sich an den silbernen Bügel. Die Reiterin stieß einen gutturalen Schrei aus und schlug mit der Reitgerte auf das Pferd ein, woraufhin der Rappe im scharfen Trab lospreschte.
Matwej Benzionowitsch rannte aus Leibeskräften, ohne zu begreifen, was mit ihm vorging. Nach etwa fünfzig, oder vielleicht auch hundert Schritten strauchelte er, mit dem Gesicht nach unten stürzte er zu Boden und überschlug sich noch mehrmals.
Aus der Dunkelheit erklang sich schnell entfernendes Gelächter.
»Was ist das nur für eine Insel!«, sagte der Ermittler immer wieder wie von Sinnen, während er auf dem Weg saß und seinen schmerzenden Ellbogen rieb. Die Fingerknöchel waren blutig und zerschrammt, aber Matwej Benzionowitsch hatte das Batisttüchlein nicht fallen gelassen.
***
Nach diesem unglaublichen Vorkommnis, das so völlig anders war als alles, was Matwej Benzionowitsch bislang erlebt hatte, war der stellvertretende Staatsanwalt offenkundig nicht ganz bei sich. Nur so ließ sich der Umstand erklären, dass er jedes Zeitgefühl verloren hatte und sich nicht erinnern konnte, wie er zurück ins Hotel gelangt war. Als der Schock schließlich nachließ und er zu sich kam, entdeckte er, dass er in seinem Zimmer auf dem Bett saß und stumpf zum Fenster hinausschaute, auf eine am Himmel hängende Apfelsinenscheibe – den zunehmenden Mond.
Mit einer mechanischen Geste zog er seine Uhr aus der Westentasche. Es war eine Minute nach zehn, woraus Matwej Benzionowitsch den Schluss zog, dass ihn wahrscheinlich das Klingeln seiner Breguet in die Realität zurückgeholt hatte, obgleich er sich nicht daran erinnern konnte, etwas gehört zu haben.
Lew Nikolajewitsch! Er hatte bis spätestens um zehn Uhr auf der Bank auf ihn warten wollen!
Der Beamte sprang auf und lief aus den Zimmer. Er ging nicht – er rannte die Straße und die Uferstraße entlang. Die Passanten blickten sich nach ihm um; im gesitteten Neu-Ararat war ein Mann, der durch die Straßen rannte, noch dazu spätabends, offenbar eine Seltenheit.
Nur um mit einem Zeugen zu sprechen, selbst wenn es sich um einen wichtigen Zeugen handelte, wäre Berditschewski nicht so Hals über Kopf davongestürzt, doch er hatte plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, Lew Nikolajewitschs klares, gutmütiges Gesicht zu sehen und mit ihm zu reden, einfach zu reden – über etwas Einfaches, Bedeutsames, das weit wichtiger war als alle Nachforschungen.
Die weiße Kuppel der Rotunde, eine der örtlichen Sehenswürdigkeiten, war von weitem zu erkennen. Der stellvertretende Staatsanwalt war völlig erschöpft, als er sie erreichte, und er hatte die Hoffnung bereits auf gegeben, Lew Nikolajewitsch noch anzutreffen. Doch von der Bank erhob sich eine hagere Gestalt, die ihm entgegentrat und zur Begrüßung den Arm schwenkte.
Beide freuten sich außerordentlich. Bei Matwej Benzionowitsch konnte man das verstehen, aber auch Lew Nikolajewitsch war allem Anschein nach höchst zufrieden.
»Und ich dachte schon, Sie würden nicht kommen!«, rief er aus, während er dem Beamten kräftig die Hand schüttelte. »Ich habe trotzdem gewartet, für alle Fälle. Aber nun sind Sie da! Das ist gut, das ist vortrefflich.«
Es war eine helle oder – wie poetische Naturen sagen – zauberhafte Nacht. Lew Nikolajewitschs Augen und sein wunderbares Lächeln waren von solchem Wohlwollen erfüllt, und Berditschewskis Seele war so bestürzt und gequält, dass er, kaum war er wieder zu Atem gekommen, diesem Mann, den er nur flüchtig kannte, erzählte, was er erlebt hatte. Von seinem Charakter und seiner tief verwurzelten Schüchternheit her neigte Matwej Benzionowitsch keineswegs zu vertraulichen Geständnissen, schon gar nicht gegenüber Fremden. Doch zum einen erschien ihm Lew Nikolajewitsch aus irgendeinem Grunde nicht fremd, und zum anderen verspürte er ein überaus dringendes Bedürfnis, sich auszusprechen und seine Seele zu erleichtern.