»Idiot! Idiot! Idiot!«
Erst jetzt erfasste Berditschewski mit dem letzten Zipfel seines rasch schwindenden Bewusstseins, dass er tatsächlich den Verstand verloren hatte, und zwar nicht erst vorhin in der Hütte, sondern schon sehr viel früher. In seinem kranken Kopf vermischten sich Traum und Wirklichkeit, und er konnte nicht mehr sagen, welches der Ereignisse dieses ungeheuerlichen Tages wahrhaftig passiert und welches eine Ausgeburt seines verwirrten Verstands gewesen war.
Den Kopf zwischen die Schultern gezogen und ein Bein nachziehend, lief der verrückte Staatsanwalt aufs Geratewohl den mondbeschienenen Weg hinunter, wobei er ununterbrochen vor sich hin murmelte:
»Ich glaube, o Herr, ich glaube!«
ZWEITER TEIL
Die Pilgerfahrt der Frau Lissizyna
Eine Adlige aus dem Gouvernement Moskau
Ausgerechnet am Vorabend des Tages, an dem der zweite Brief von Doktor Korowin eintraf, kam es zwischen dem Bischof und Schwester Pelagia zu einem Gespräch über Männer und Frauen. Das heißt, der Bischof und seine geistliche Tochter disputierten häufig über dieses Thema, aber dieses Mal waren sie wie mit Absicht bei der Frage nach dem schwachen und dem starken Geschlecht aneinander geraten. Pelagia wollte beweisen, dass man die Frauen zu Unrecht als das »schwache Geschlecht« bezeichnete, das sei nicht wahr, außer vielleicht in Bezug auf die Muskelkraft, und selbst dann nicht immer. Die Nonne hatte sich in ihrem Eifer sogar dazu hinreißen lassen, dem Bischof den Vorschlag zu machen, mit ihm um die Wette zu laufen oder zu schwimmen, um zu sehen, wer schneller wäre, doch sie besann sich gleich wieder und bat um Verzeihung. Mitrofani war keineswegs verärgert darüber, sondern er fing an zu lachen.
»Wir würden ein schönes Bild abgeben«, meinte der Bischof. »Du und ich im Sturmschritt die Bolschaja Dworjanskaja hinunter, die Kutten hochgerafft, die Beine blitzen darunter hervor, mein Bart steht im Wind wie ein Reisigbesen, deine roten Locken flattern. Die Leute würden sich das ansehen und sich bekreuzigen, aber uns wäre das alles egal – wir würden zum Fluss laufen, uns ins Wasser stürzen und kraulen, was das Zeug hält.«
Auch Pelagia musste lachen, ließ aber vom Thema nicht ab.
»Es gibt kein starkes Geschlecht und kein schwaches. Jedes Geschlecht ist in mancher Hinsicht stark und in anderer schwach. In Bezug auf Logik sind die Männer natürlich stärker, daher auch ihre größere Befähigung zur Naturwissenschaft, aber gerade darin liegt auch der Nachteil. Ihr Männer wollt immerzu allem mit der Geometrie zu Leibe rücken; was man nicht in geometrische Figuren und rechte Winkel pressen kann, das lasst ihr außer Acht, und daher entgeht euch das Wichtigste. Außerdem seid ihr Wirrköpfe und redet unentwegt allerlei Unsinn zusammen, und dann verheddert ihr euch! Auch der Stolz behindert euch, ihr fürchtet nichts mehr, als in eine lächerliche oder erniedrigende Lage zu geraten. Uns Frauen aber ist das egal, wir wissen sehr gut, dass diese Befürchtung albern und kindisch ist. Bei unwichtigen Dingen kann man uns leicht in Verwirrung bringen, aber bei wichtigen, wirklich bedeutsamen Dingen lassen wir uns durch die Logik nicht aus dem Konzept bringen.«
»Warum erzählst du das alles?«, fragte Mitrofani mit einem spöttischen Lächeln. »Wozu diese Philippika? Soll das heißen, die Männer sind dumm, man muss ihnen die Macht über die Gesellschaft wegnehmen und sie euch übergeben?«
Die Nonne schob mit dem Finger ihre Brille hoch, die ihr in der Aufregung auf die Nasenspitze hinuntergerutscht war.
»Nein, Eminenz, Sie hören mir überhaupt nicht zu! Beide Geschlechter sind auf ihre Art klug und dumm, stark und schwach. Aber auf verschiedene Weise! Darin liegt auch die Größe von Gottes Idee, das ist der Sinn der Liebe und der Ehe, dass die Schwächen eines jeden durch die Stärken des Ehegatten gestützt werden.«
Der Bischof war jedoch heute nicht zu einer ernsthaften Unterhaltung aufgelegt. Er spielte den Erstaunten:
»Willst du dich etwa verheiraten?«
»Ich spreche nicht von mir selbst. Ich habe einen anderen Bräutigam, der mich besser stützt als jeder Mann. Ich spreche davon, dass es nicht richtig ist, Vater, sich in ernsten Angelegenheiten nur auf den männlichen Verstand zu verlassen und die weibliche Stärke und die männliche Schwäche zu vergessen.«
Mitrofani hörte zu und lachte still vor sich hin, was Pelagia nur noch mehr in Aufruhr versetzte.
Schließlich machte sie ihrem Unmut Luft: »Am schlimmsten aber ist Ihr herablassendes Lächeln! Das ist typisch männlicher Hochmut, der für einen Mönch ganz und gar nicht angebracht ist! Hat man Ihnen nicht gesagt: ›Es gibt kein männliches Geschlecht, es gibt kein weibliches, denn ihr alle seid eins in Jesus Christus‹?«
»Ich weiß, warum du mir eine Predigt hältst und so wütend bist«, erwiderte der scharfsinnige Hirte darauf. »Du bist beleidigt, dass ich nicht dich nach Neu-Ararat geschickt habe. Und du bist eifersüchtig auf Matwej. Wie wird er nur alles entwirren, ohne dass dein roter Lockenkopf daran beteiligt ist? Und er wird es in jedem Fall entwirren, denn er ist vorsichtig, scharfsinnig und logisch.« Mitrofani hörte auf zu lächeln und sagte in ernstem Ton: »Meinst du, ich würde dich nicht schätzen? Meinst du, ich wüsste nicht, wie findig du bist, was für ein feines Gespür und welche Menschenkenntnis du hast? Aber du weißt selbst, dass Nonnen in Ararat keinen Zutritt haben. Die Klosterordnung verbietet es.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt, und ich wollte in Gegenwart von Berditschewski keinen Streit anfangen. Natürlich ist Schwester Pelagia der Zutritt verboten. Polina Andrejewna Lissizyna hingegen darf sehr wohl dorthin.«
»Wag es nicht, daran zu denken!«, sagte der Bischof streng. »Es reicht! Wir haben gesündigt und Gott erzürnt, nun ist es genug. Ich gestehe, ich bin selbst schuld, dass ich dir im Namen der Wahrheit und des Triumphs der Gerechtigkeit meinen Segen zu solcher Ausschweifung gegeben habe. Ich habe alle Schuld auf mich genommen. Und wenn man im Synod von diesem Unfug erfahren würde, würde man mich mit einem Schlag in den Nacken von der Kanzel verjagen und möglicherweise sogar des Amtes entheben. Doch nicht aus Angst um meinen Bischofsumhang habe ich mir das fest vorgenommen, sondern aus Angst um dich. Hast du vergessen, dass deine Schauspielerei dich letzthin beinahe das Leben gekostet hätte? Das ist vorbei, Frau Lissizyna wird es nicht mehr geben, und ich will nichts mehr davon hören!«
Noch lange stritten sie sich wegen dieser geheimnisvollen Frau Lissizyna, ohne dass einer den anderen überzeugen konnte, und als sie schließlich auseinander gingen, beharrten sie beide auf ihrer Meinung.
Am Morgen dann brachte die Post dem Bischof einen Brief von der Insel Kanaan, vom Psychiater Doktor Korowin.
Der Bischof öffnete den Umschlag, las den Brief, fasste sich ans Herz und brach zusammen.
In den Gemächern des Bischof setzte nun ein nie da gewesener Tumult ein: Ärzte kamen gelaufen, der Gouverneur kam zu Pferde angesprengt – ohne Hut, auf einem ungesattelten Pferd, der Adelsmarschall eilte von seinem Landgut herbei.
Auch Schwester Pelagia durfte natürlich nicht fehlen. Ganz leise kam sie herein, sie saß eine Weile im Empfangszimmer, blickte die umhereilenden Ärzte erschrocken an und wartete einen passenden Moment ab, um den Sekretär des Bischofs, Vater Usserdow, beiseite zu nehmen. Dieser erzählte, wie das Unglück passiert war, und zeigte ihr den unglückseligen Brief, in dem von dem neuen Patienten in Doktor Korowins Krankenhaus die Rede war.
Den Rest des Tages und die ganze Nacht verbrachte die Nonne kniend in der Hauskapelle des Bischofs – aber nicht auf dem Betstuhl, sondern auf dem nackten Boden. Inbrünstig betete sie für die Heilung des Kranken, dessen Tod ein Unglück wäre, für den gesamten Kreis ebenso wie für die vielen, die den Bischof liebten. Ins Schlafgemach, wo der Kranke gepflegt wurde, drängte Pelagia sich nicht hinein – es gab auch ohne sie genügend Leute, die ihm ihre Aufwartung machen wollten, zudem hätte man sie wohl nicht vorgelassen. Ein ganzes Konsilium praktizierte seine Kunst an dem bewusstlosen Körper, und aus Sankt Petersburg waren, von einem Telegramm herbeigerufen, bereits die drei wichtigsten Koryphäen auf dem Gebiet der Herzkrankheiten eingetroffen.