»Ach, Sie hätten auf keinen Fall Mönch werden dürfen«, sagte sie bestürzt. »Der Herr hätte Sie verstanden und Ihnen vergeben. Das Mönchtum sollte eine Belohnung sein, für Sie aber ist es eine Strafe. Sie sehnen sich gewiss nach Ihrem früheren Leben? Ich kenne die Seeleute. Ohne Wein, ohne Fluchen könnt ihr nur schwer sein. Und dann das Keuschheitsgelübde . . .« schloss die barmherzige Pilgerin halblaut, wie für sich, in bedauerndem Tonfall.
Der Kapitän hatte es dennoch gehört und warf der taktlosen Person einen Blick zu, unter dem Polina Andrejewna erschrak und alsbald den Rückzug von der Brücke auf das Deck antrat, um sich von da aus wieder in ihre Kabine zu begeben.
Das Männerparadies
Der grimmige Blick des Kapitäns wurde zu einem gewissen Grad verständlich, als der »Heilige Wassilisk« morgens am Anleger von Neu-Ararat festmachte. In Erwartung eines Trägers hatte Polina Andrejewna sich noch ein wenig an Bord aufgehalten und war nun beinahe die Letzte, die das Schiff verließ. Eine schlanke junge Dame in Schwarz, die an der Anlegestelle ungeduldig auf jemanden wartete, erregte ihre Aufmerksamkeit. Nachdem sie die Dame geflissentlich gemustert und einige Be-
Sonderheiten ihrer Kleidung registriert hatte (die zwar sehr ausgesucht, aber ein wenig démodé war – den Modejournalen nach zu urteilen wurden derart breite Hüte und hohe Überschuhe mit Silberknöpfen in dieser Saison nicht mehr getragen), schloss die Lissizyna, dass es sich bei der Dame um eine Einwohnerin von Neu-Ararat handeln musste. Sie war schön, was aber durch ihre Blässe und ihren allzu unsteten, feindseligen Blick beeinträchtigt wurde. Die Einheimische musterte die Moskauer Adlige gleichfalls forschend, und ihre Augen blieben an dem Umhang und den roten Locken hängen, die unter dem Hütchen Modell »Schelmischer Page« hervorquollen.. Das schöne Gesicht der Unbekannten verzerrte sich böse, und sie wandte sich ab, als sie jemanden an Deck erspähte.
Die neugierige Polina Andrejewna trat ein Stück beiseite, drehte sich um, setzte ihre Brille auf und wurde für diese Umsichtigkeit durch den Anblick einer interessanten Szene belohnt.
Bruder Jonas trat ans Fallreep und blieb beim Anblick der schwarzen Dame wie angewurzelt stehen. Doch kaum hatte sie ihn mit einer knappen, gebieterischen Geste herbeigewinkt, als der Kapitän auch schon beinahe im Laufschritt zur Anlegestelle hinunterstürmte. Polina Andrejewna musste wieder an das mönchische Keuschheitsgelübde denken, und sie schüttelte den Kopf. Sie konnte ein weiteres aufschlussreiches Detail bemerken: Als Jonas bei der Dame ankam, wandte er ihr nur ganz leicht den Kopf zu (das breite, derbe Gesicht des Kapitäns war noch röter als gewöhnlich) und berührte, ohne stehen zu bleiben, nur flüchtig ihre Hand. Die brillenbewehrten Augen der Frau Lissizyna bemerkten jedoch, dass etwas Kleines, Papierenes, Quadratisches – entweder ein Umschlag oder eine zusammengefaltete Notiz – aus der Pranke des ehemaligen Walfängers in die schmale, in graues Wildleder gehüllte Hand der Dame wechselte.
Ach, die Ärmste, seufzte Polina Andrejewna, bevor sie weiterging und mit Interesse die heilige Stadt betrachtete.
Glücklicherweise war das Wetter der Pilgerin ausnehmend gewogen. Die fahle Sonne beleuchtete mit melancholischem Gleichmut die goldenen Kuppeln der Kirchen und Glockentürme, die weißen Mauern des Klosters und die bunten Dächer der Häuser. Am meisten gefiel ihr, dass die leuchtenden Farben des Herbstes in Neu-Ararat noch nicht erloschen waren: Die Bäume waren goldgelb, braun und rot, und der Himmel leuchtete, ganz untypisch für November, in einem strahlenden Blau. In Sawolshsk hingegen, das viel weiter südlich lag, waren die Blätter schon lange abgefallen, und die Pfützen waren am Morgen mit einer dünnen, schmutzigen Eisschicht bedeckt.
Polina Andrejewna erinnerte sich, dass der Gehilfe des Kapitäns in der Kommandokabine von einem besonders milden Klima gesprochen hatte, welches sich durch die Launen der warmen Strömungen und natürlich das Wohlwollen des Herrn gegenüber diesem heilsamen Ort erklären lasse.
Noch bevor die Reisende in ihrem Hotel ankam, hatte sie bereits alle Besonderheiten von Neu-Ararat gesehen und sich einen ersten Eindruck von dieser wunderlichen Stadt verschafft.
Neu-Ararat schien der Lissizyna ein prächtiges, vernünftig angelegtes Städtchen zu sein, das aber gleichzeitig einen unglücklichen oder, wie sie es in Gedanken nannte, armseligen Eindruck machte. Nicht in dem Sinne, dass Straßen oder Häuser ärmlich ausgesehen hätten – gerade in dieser Hinsicht war alles in schönster Ordnung: Die Häuser waren gediegen, meistenteils aus Stein gebaut, die zahlreichen Kirchen prunkvoll, wenn auch klobig, ohne jede die Seele erhebende Himmelsstürmerei, und die Straßen waren eine Augenweide – kein Staubkorn, keine Pfützen. »Armselig« nannte Polina Andrejewna die Stadt deshalb, weil sie ihr irgendwie unfroh vorkam, nicht so, wie sie es von einem Kloster, das Gott nahe war, erwartet hätte.
Einige Zeit später konnte die Pilgerin sich auch den Grund für dieses Unbehagen erklären. Doch das war erst später, nachdem Frau Lissizyna bereits ihr Zimmer im Hotel bezogen hatte. Sie verkündete dort als Allererstes, dass sie dem Vater Klostervorsteher persönlich eine Spende von fünfhundert Rubeln übergeben wolle, und erhielt noch am selben Tag eine Audienz. Die Klientel der »Keuschen Jungfrau«, ebenso wie der Kreis der Angestellten, bestand ausschließlich aus Frauen, weshalb in der Einrichtung der Zimmer bestickte kleine Vorhänge, gepolsterte Höckerchen, kleine Kissen und mit Stoff bezogene Bänkchen vorherrschten – diese überladene Ausstaffierung gefiel der neuen Bewohnerin, die die Einfachheit der Klosterzelle gewohnt war, ganz und gar nicht. Und als sie dieses Frauenparadies verließ und wieder hinaus auf die Straße ging, machte der Kontrast Polina Andrejewna plötzlich deutlich, wieso die Stadt ihr ein unbehagliches Gefühl verursachte.
Die Stadt hatte auch etwas von einem Paradies, aber nicht von einem Frauen-, sondern von einem Männerparadies. Hier hatten Männer in allem das Sagen, sie hatten alles nach ihrem Gutdünken eingerichtet, ohne Rücksicht auf ihre Frauen, Töchter oder Schwestern, und deshalb sah die Stadt aus wie die Kaserne eines Garderegiments: geometrisch perfekt, adrett und sauber, ja geleckt, aber leben mochte man darin nicht.
Nach dieser Entdeckung machte sich die Lissizyna mit noch größerer Neugier daran, nach allen Seiten die Augen offen zu halten. So also würden die Männer das Leben auf Erden einrichten, wenn man ihnen ihren Willen ließe! Beten, mit dem Besen herumwedeln, sich Bärte wachsen lassen und in Formation marschieren (Polina Andrejewna kam gerade eine Kolonne der klösterlichen »Friedenswächter« entgegen). Da bekam sie Mitleid mit allen: mit Neu-Ararat, mit den Männern und den Frauen. Die Männer taten ihr aber trotzdem mehr Leid als die Frauen, weil Letztere ohne Erstere auskommen können, wohingegen die Männer gewiss zugrunde gehen, wenn sie sich selbst überlassen sind. Entweder sie verwildern und werden flegelhaft, oder sie verfallen in stumpfe Teilnahmslosigkeit. Man weiß nicht, was schlimmer ist.
Ein Kätzchen wird gerettet
Wie bereits gesagt, war der freigebigen Spenderin eine unverzügliche Audienz bei Seiner Hochwürden, Vater Witali, gewährt worden, und so machte sich die Reisende nach Verlassen des Hotels auf den Weg zum Kloster.
Mit seinen weißen Mauern und zahlreichen Kuppeln war das berühmte Kloster von nahezu allen Punkten der Stadt aus zu sehen, denn es befand sich an jenem Ende der Stadt, das auf einer leichten Anhöhe über dem See lag. Der Weg von den letzten Häusern der Stadt zu den ersten Gebäuden außerhalb der Klostermauern, die meist Wirtschaftszwecken dienten, verlief durch einen Park am Steilufer, zu dessen Fuß sich friedlich die rastlosen blauen Wellen kräuselten.