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Während sie am See entlangwanderte, fasste Polina Andrejewna ihren wollenen Umhang fester, denn der Wind war kühl, aber dennoch ging sie nicht tiefer in den Park hinein, weil sich von hier oben ein fast schmerzhaft schöner Blick auf den See bot und der böige Westwind zudem weniger Kühlung als vielmehr Erfrischung brachte.

Kurz vor der Klostergrenze war auf einer offenen Wiese, die anscheinend ein beliebtes Ausflugsziel der örtlichen Bevölkerung darstellte, etwas Ungewöhnliches im Gange, und die neugierige Lissizyna wandte sich unverzüglich dorthin.

Zunächst sah sie eine Schar von Menschen, die sich aus irgendeinem Grunde direkt am Ufer bei einer alten überhängenden Erle versammelt hatten, dann vernahm sie das Weinen eines Kindes und andere feine, durchdringende Laute, von denen sie nicht sagen konnte, woher sie kamen, die aber gleichfalls sehr jämmerlich klangen. Polina Andrejewna, die aus ihrer Erfahrung als Lehrerin alle Schattierungen kindlichen Weinens kannte, bemerkte mit Besorgnis, dass dieses Weinen überaus bitterlich und aufrichtig klang.

Eine halbe Minute reichte der jungen Dame, sich ein Bild von der Lage zu machen.

Im Grunde handelte es sich um eine ganz gewöhnliche, teils sogar komische Geschichte. Ein kleines Mädchen hatte mit einem Kätzchen gespielt und ihm erlaubt, auf den Baum zu klettern. Das flaumige Katzenkind hatte seine Krallen in die schartige Baumrinde geschlagen und sich dabei so weit und hoch hinausgewagt, dass es jetzt nicht mehr zurückkonnte. Die Situation war gefährlich, denn die Erle stand überhängend am steilen Abhang, und das Kätzchen saß auf dem längsten und dünnsten Ast fest, unter dem in der Tiefe die schaumbedeckten Wellen plätscherten.

Man konnte sofort sehen, dass dem armen Ding nicht zu helfen war. Schade – es war ein ganz reizendes, hübsches Kätzchen: weißes Fell wie Schwanengefieder, runde, blaue Äuglein und um den Hals ein liebevoll gebundenes Atlasbändchen.

Noch mehr Mitleid hatte sie mit der Besitzerin, einem kleinen Mädchen von vielleicht sechs oder sieben Jahren. Auch sie war allerliebst mit ihrem adretten Sarafan, dem geblümten Tüchlein, unter dem helle Locken hervorquollen, und ihren Bastschühchen, die aussahen wie Spielzeugschuhe.

»Kusja! Kusjenka!«, schluchzte die Kleine. »Komm her, du fällst runter!«

Von »herkommen« konnte keine Rede sein. Das Kätzchen klammerte sich mit letzter Kraft an das Ende des Asts. Der Wind schaukelte das weiße Körperchen, sodass es bald nach rechts, bald nach links schwankte und gewiss bald ganz heruntergeschüttelt werden würde.

Polina Andrejewna beobachtete das traurige Bild und griff sich ans Herz. Ein noch nicht allzu lange zurückliegendes Ereignis fiel ihr ein, als sie in der gleichen Lage gewesen war wie dieses Kätzchen und allein durch Gottes Vorsehung gerettet worden war. Bei der Erinnerung an diese entsetzliche Nacht bekreuzigte sie sich und sprach flüsternd ein Gebet – aber nicht aus Dankbarkeit über ihre wundersame Rettung, sondern für das arme verdammte Kätzchen: »O Herr, lass das Tierchen leben! Was kostet Dich eine solche Kleinigkeit?«

Sie wusste selbstverständlich genau, dass nur ein Wunder das Kätzchen retten konnte und es für die Vorsehung keinen Anlass gab, mit Wundern um sich zu werfen. Es wäre geradezu lächerlich gewesen, nicht erhaben.

Die Leute in der Menge schwiegen natürlich nicht – einer tröstete das Mädchen, andere diskutierten, wie man das dumme Kätzchen da herunterholen könnte.

Jemand sagte: »Man müsste hinaufklettern, das Bein auf einem Ast abstützen und das Kätzchen mit einem Fangnetz holen«, obwohl hier im Park ganz offensichtlich kein Fangnetz zu beschaffen war. Ein anderer überlegte laut vor sich hin: »Man könnte auf den Ast klettern und versuchen, sich vorzustrecken, aber dann bricht der Ast und man fällt hinunter. Es mag ja noch angehen, wegen eines Geschäfts sein Leben zu riskieren, aber wegen einer Katze . . .« Und er hatte Recht, vollkommen Recht.

Polina Andrejewna wollte schon weitergehen, um nicht mit anzusehen, wie das weiße, flaumige Knäuel fiepend in die Tiefe segeln würde, und nicht mit anzuhören, wie herzzerreißend das kleine Mädchen dann weinen würde (man sollte sie wegbringen), doch in dem Moment gesellte sich eine neue Person dazu, die so interessant war, dass die angebliche Moskauerin es sich anders überlegte und nicht weiterging.

Ein hoch gewachsener, hagerer Herr in einem stutzerhaften weißen Mantel und einer ebenfalls weißen, leinenen Schirmmütze stieß das Publikum ohne viel Federlesens beiseite. Der energische Herr fiel ohne jeden Zweifel unter die berüchtigte Kategorie »bildschöner Mann«, zu der ein Mann bekanntlich keineswegs wegen seiner klassisch-regelmäßigen Züge gezählt wird (obwohl dieser goldhaarige, blauäugige Herr slawischen Typs ganz und gar nicht hässlich war), sondern weil er einen allgemeinen Eindruck ruhiger Gelassenheit und bezaubernder Verwegenheit zu vermitteln weiß. Diese beiden Qualitäten, die unweigerlich auf nahezu alle Frauen wirken, zeigten sich so deutlich im Gesicht und in der ganzen Art dieses eleganten Herrn, dass die sich in der Menge befindlichen Damen und Fräulein, die Frauen und Mädchen ihm sofort besondere Aufmerksamkeit schenkten.

Auch Frau Lissizyna bildete da keine Ausnahme und dachte bei sich: »So etwas, was es für Typen gibt in Ararat. Ist der hier etwa auch auf einer Wallfahrt?«

Doch der Neuankömmling verhielt sich im Folgenden so, dass sich die besondere Aufmerksamkeit gegenüber seiner Person in eine gebannte Aufmerksamkeit verwandelte (was, nebenbei bemerkt, beim Erscheinen eines »bildschönen Mannes« keine Seltenheit ist).

Der schöne Mann hatte mit einem Blick die Lage erfasst und richtig eingeschätzt und schleuderte ohne das geringste Zögern seine Mütze zu Boden, wohin auch der modische Mantel flog.

Einem der Gaffer, dem Aussehen nach ein Handwerker, befahl der Herr:

»He, du da, marsch, auf den Baum! Nur keine Bange, du musst nicht auf den Ast klettern. Wenn ich ›Los!‹ schreie, schüttelst du ihn mit aller Kraft.«

Es war unmöglich, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten. Der Handwerker ließ seine speckige Schirmmütze ebenfalls zu Boden fallen, spuckte in die Hände und kletterte auf den Baum.

Das Publikum hielt den Atem an – und wie weiter?

Und weiter ließ der schöne Mann seinen ebenfalls weißen Gehrock ins Gras fallen, er nahm Anlauf und sprang ins Bodenlose.

Aah!

Selbstverständlich schreibt man über das »Bodenlose« gewöhnlich aus Effekthascherei, denn jedermann weiß, dass außer dem einen und endgültigen Bodenlosen alle anderen Abgründe, sei es zu Land oder zu Wasser, unweigerlich irgendeinen Boden haben. Und so war auch dieser Abgrund nicht bodenlos, sondern vielleicht zehn Klafter tief. Doch das allein hätte vollkommen ausgereicht, um sich durch den Aufprall auf dem Wasser zu verletzen und zu ertrinken, ganz zu schweigen davon, dass vom See eine bleierne Kälte heraufwehte.

Wie man es auch betrachtete, die Tat war der reine Wahnsinn. Sie war nicht heldenhaft, sondern wirklich wahnsinnig. Wenn es wenigstens etwas gewesen wäre, um dessentwillen sich Heldentum gelohnt hätte.

Mit dem oben erwähnten »Aah!« drängten sich alle über dem steilen Abhang zusammen, um zu erspähen, ob nicht der übermütige blonde Kopf aus den Wellen auftauchte.

Da war er! Wie ein Tennisball tanzte er zwischen den erstaunten Wellenkämmen.

Dann tauchte ein Arm auf und winkte. Eine klingende, vom hilfsbereiten Wind getragene Stimme schrie herauf:

»Los!«

Der Handwerker schüttelte den Ast aus Leibeskräften, und das Kätzchen stürzte mit einem erbärmlichen Fiepen in die Tiefe. Es schlug etwa einen Klafter neben dem verrückten Herrn auf, der es in Sekundenschnelle packte und über die Wellen hochhielt.

Die Zuschauer jubelten und schrien vor Begeisterung und waren völlig außer sich.

Mit der freien Hand rudernd, schwamm der Held (der doch ein Held und kein Verrückter war, wie die Reaktion des Publikums bewies) zum Fuß des Abhangs, kletterte mit Mühe auf einen nassen Findling und balancierte unmittelbar am Rand der Brandung entlang zu einem in den Fels gehauenen Pfad. Von oben kam man ihm bereits entgegengelaufen, um ihn unterzuhaken, ihn trockenzureiben und zu umarmen.