»Nein.« Der Hochehrwürdige runzelte die Stirn. »Das ist bei uns nicht üblich. Halten Sie sich an den üblichen Weg: Wenden Sie sich an seine Praxis in Petersburg oder Moskau, dort wird darüber entschieden.«
»Ich habe entsetzliche Visionen«, klagte Polina Andrejewna. »Ich kann nachts nicht schlafen. Die Psychiater in Moskau wollen mich nicht behandeln.«
»Was sind denn das für Erscheinungen?«, erkundigte der Klostervorsteher sich beklommen, als er sah, dass die Besucherin sich noch umständlicher auf ihrem Stuhl zurechtsetzte.
»Sagen Sie, Eure Hochehrwürden, haben Sie schon einmal ein lebendiges Krokodil gesehen?«
Witali blinzelte überrascht.
»Nein. Warum fragen Sie?«
»Ich habe eines gesehen. In Moskau, vorige Weihnachten. Eine englische Menagerie gastierte in der Stadt, und ich war so dumm, da hinzugehen.«
»Wieso denn dumm?«, seufzte der Archimandrit.
»Weil es ganz entsetzlich aussah! Grün, höckrig, ein Rachen voll riesiger Zähne, und mit diesem Rachen lächelt er, der ägyptische Pharao! Es war schauerlich! Und die winzigen, blutdürstigen Äuglein lächeln ebenfalls! Nie im Leben habe ich etwas Entsetzlicheres gesehen! Und seither träume ich davon, jede Nacht träume ich von seinem grauslichen Lächeln!«
Die Besucherin, die bis zu diesem Moment ein überaus ruhiges und vernünftiges Verhalten an den Tag gelegt hatte, verlor die Fassung und geriet in heftige Erregung, woran zu erkennen war, dass eine psychiatrische Behandlung ihr in der Tat nicht schaden könnte. Schließlich kommt es häufig vor, dass ein in jeder Hinsicht normaler, ja besonnener Mensch an einem bestimmten Punkt völlig manisch reagiert. Bei der Moskauer Witwe war offensichtlich das afrikanische Reptil der Auslöser für eine derartige Geistesverwirrung.
Nachdem er noch einige weitere krankhafte Träume angehört hatte, einer schrecklicher als der andere (und alle unweigerlich unter Beteiligung des lächelnden Schuppentiers), gab Vater Witali nach: Er ging zum Tisch und warf einige Zeilen auf ein Papier, dass die Tinte nur so spritzte.
»So, meine Tochter. Hier haben Sie eine Empfehlung. Fahren Sie zu Donat Sawwitsch, ich habe unaufschiebbare Dinge zu erledigen, verzeihen Sie.«
Frau Lissizyna sprang auf, wobei sie unwillkürlich mit der Hand an ihre auf dem Stuhl gemarterten weichen Körperteile langte, las die Notiz durch und war nicht zufrieden.
»Nein, Vater. Was ist denn das für eine Empfehlung: ›Ich bitte die Überbringerin dieses Schreibens anzuhören und ihr nach Möglichkeit Hilfe zu erweisen‹? Das schreibt man in Behörden auf ein Gesuch, wenn man sich die Leute vom Hals schaffen will. Sie müssen nachdrücklicher und fordernder schreiben, Vater.«
»Was heißt denn fordernder?«
»Gnädiger Herr Donat Sawwitsch«, begann Polina Andrejewna zu diktieren. »Wie Sie wissen, belästige ich Sie selten mit Bitten persönlicher Natur, daher beschwöre ich Sie, mein Anliegen nicht abzulehnen. Meine Herzensfreundin und Schwester im Geiste Frau Lissizyna, die von einem schweren seelischen Leiden übermannt ist, benötigt schnellstmögliche . . .«
Bei »Herzensfreundin und Schwester im Geiste« sträubte sich der Klostervorsteher, woraufhin Polina Andrejewna sich erneut auf dem Stuhl niederließ, ihr Strickzeug aus dem Beutel holte und anfing, einen weiteren Traum zu erzählen: Wie ihr auf ihrem kalten Witwenlager der verstorbene Gemahl erschienen sei und sie ihn umarmt und geküsst habe, als plötzlich unter der Nachtmütze der grässliche Rachen mit den großen, scharfen Zähnen hervorlächelte und die schrecklichen Füße ihr die Krallen in die Seite . . .
Der Archimandrit, ansonsten unerschütterlich, ertrug es nicht, den furchtbaren Traum zu Ende anzuhören, und kapitulierte. Er schrieb die Empfehlung wie verlangt, Wort für Wort.
Also hatte Frau Lissizynas Fleisch die Prüfung auf dem Stuhl nicht umsonst erduldet – nun konnte sie sich ernsthaft an die Untersuchung machen.
Interessante Menschen
Wie hätte sich der hochehrwürdige Witali gewundert, hätte er dem Gespräch zuhören können, das die absonderliche Dame aus Moskau mit Doktor Korowin führte! Polina Andrejewna erzählte dem Leiter der Klinik nichts von einem lächelnden Schuppentier oder zweideutigen Träumen. Zu Anfang machte sie den Mund fast gar nicht auf und musterte den selbstsicheren, glatt rasierten Herrn, der das Empfehlungsschreiben las.
Zugleich überflog sie das Kabinett mit einem Blick – ein ganz gewöhnliches Kabinett mit Diplomen und Fotografien an den Wänden. Ungewöhnlich war lediglich ein Bild in einem prächtigen Bronzerahmen, das über dem Schreibtisch hing: eine höchst überzeugend und detailliert dargestellte Krake, die in jedem ihrer langen, saugnapfbesetzten Tentakel eine sich windende, nackte menschliche Gestalt hielt. Das Gesicht des Monsters (wenn man den Rumpfkopf der riesigen Molluske denn als »Gesicht« bezeichnen konnte) erinnerte verblüffend an das bebrillte, herrische Gesicht von Donat Sawwitsch selbst, wobei man unmöglich sagen konnte, wodurch diese Ähnlichkeit zustande kam – die gigantische Krake hatte vom Aussehen her nichts Karikaturistisches oder Gekünsteltes an sich.
Als er die Notiz des Archimandriten gelesen hatte, blickte der Doktor die Besucherin über seine goldene Brille hinweg mit Interesse an.
»Noch nie habe ich von Vater Witali ein so kategorisches Schreiben erhalten. In welcher Beziehung stehen Sie zum Hochehrwürdigen, dass er sich so für Sie ins Zeug legt?« Donat Sawwitsch lächelte spöttisch. »›Schwester im Geiste‹ – ein hübscher Ausdruck. Es ist doch wohl nichts Romantisches? Das wäre unter psycho-physiologischem Gesichtspunkt sehr aufschlussreich – ich habe den Vater Klostervorsteher immer zum klassischen Typus des unausgelebten Knabenschänders gezählt. Sagen Sie, Frau . . . äh . . . Lissizyna, sind Sie in der Tat so schwer krank? Hier heißt es: ›Retten Sie eine von unerträglichen Leiden geprüfte weibliche Seele.‹ Auf den ersten Blick macht es nicht gerade den Eindruck, als sei Ihre Seele von Leiden geprüft.«
Polina Andrejewna, die sich bereits eine Meinung über den Herrn des Kabinetts gebildet hatte, deutete auf den Brief und winkte mit einem unbekümmerten Lächeln ab.
»Damit haben Sie ganz Recht. Und was den Archimandriten betrifft, wohl auch. Er kann Frauen nicht ausstehen. Was ich schamlos ausgenutzt habe, um dem armen Kerl mit Gewalt einen Passierschein für Ihre Zitadelle zu entreißen.«
Der Doktor hob leicht die Augenbrauen und verzog ansatzweise die Mundwinkel, als wolle er sie zu einem Lächeln öffnen.
»Wozu brauchen Sie mich?«
»In Moskau erzählt man so interessante Dinge über Sie! Mein Entschluss, zu einer Wallfahrt nach Neu-Ararat aufzubrechen, war eine Anwandlung, die mich selbst überrascht hat. Sie wissen ja, wie das bei uns Frauen ist. Jetzt bin ich hier, und ich habe keine Ahnung, womit ich mich beschäftigen soll. Nun, ich habe versucht zu beten, aber die Anwandlung ist leider vorbei. Ich habe mir den Archimandriten angesehen. Außerdem fahre ich mit dem Kutter im Archipel umher . . .« Polina Andrejewna breitete die Arme aus. »Und ich fahre erst in vier Tagen zurück.«
Die Aufrichtigkeit der schönen jungen Dame verärgerte Korowin nicht, sondern erheiterte ihn eher.
»Ich bin also eine Art Sehenswürdigkeit für Sie?«, fragte er und lächelte jetzt richtig und nicht nur mit halber Kraft.
»Nein, nein, wo denken Sie hin!«, erschrak die leichtsinnige Besucherin, die aber ihr Lachen auch nicht mehr unterdrücken konnte. »Das heißt, höchstens im allerehrerbietigsten Sinne. Nein, wahrhaftig, man hat mir über Sie wahre Wunderdinge berichtet! Es wäre eine Sünde gewesen, mir die Gelegenheit entgehen zu lassen!«
Nachdem sie ihren Gesprächspartner durch ihre Offenheit für sich eingenommen hatte, führte Polina die Unterhaltung gemäß der Regeln für den richtigen Umgang mit Männern. Regel Nummer eins lautete: Wenn du einem Mann gefallen willst, schmeichle ihm. Je klüger und einfühlsamer der Mann ist, desto klüger und einfühlsamer muss man schmeicheln. Je ungeschliffener der Mann, desto ungeschliffener die Lobsprüche. Da Doktor Korowin offenkundig nicht zu den Dummköpfen gehörte, ging Polina Andrejewna daran, sich der Sache auf Umwegen zu nähern.