Das Cottage Nummer drei befand sich ganz am Rand der mit Kiefern bewachsenen Anhöhe, die Korowin vom Kloster gemietet hatte. Das kleine Haus mit den weiß verputzten Wänden schien Polina Andrejewna nicht weiter bemerkenswert, besonders im Vergleich mit den übrigen Cottages, von denen viele durch ihr bizarres Aussehen auffielen.
»Bei diesem Haus liegt der ganze Reiz im Innern«, erklärte Donat Sawwitsch. »Jessichin kümmert es nicht, wie seine Behausung von außen aussieht. Außerdem sagte ich ja bereits – er verlässt das Haus nie.«
Sie betraten das Haus ohne anzuklopfen. Erst nachher begriff Polina, warum: Der Künstler hätte sie ohnehin nicht gehört, und wenn er sie gehört hätte, hätte er keine Antwort gegeben.
Polina sah, dass das Cottage aus einem einzigen Raum mit fünf großen Fenstern bestand, eines in jeder Wand und ein weiteres in der Decke. In diesem Studio gab es keinerlei Möbel. Wahrscheinlich aß und schlief Jessichin direkt auf dem Boden.
Im Übrigen kam die Besucherin nicht dazu, den Raum einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, so verblüfft war sie von den Wänden und der Decke dieser wunderlichen Behausung.
Alle Flächen mit Ausnahme des Bodens und der Fenster waren mit Leinwand bespannt, die fast vollständig mit Ölfarben bemalt war. Die Decke stellte den Nachthimmel dar, so genau und überzeugend, dass man, wäre nicht die quadratische Fensterscheibe gewesen, durch die vom Sonnenuntergang zart gefärbte Wolken zu sehen waren, sich leicht hätte täuschen lassen und meinen können, das Haus habe überhaupt kein Dach. An der Wand zur Nordseite hin war der Kiefernwald abgebildet, an der Wand nach Osten der zum Fluss und zu den Meiereien hin sanft geneigte Abhang, die Wand nach Westen hin zeigte die Wiese und die beiden Nachbarcottages, und die Wand nach Süden Buschwerk. Es war nicht schwer zu bemerken, dass der Künstler mit verblüffender Genauigkeit die Landschaft ringsum abgebildet hatte. Nur schien sie bei Jessichin viel ausdrucksvoller und weiträumiger, das durchs Fenster zu sehende Original wirkte dagegen wie eine blasse Kopie der gemalten Landschaft.
»Er begeistert sich gerade für Landschaften«, erklärte Donat Sawwitsch halblaut, und er deutete auf den Künstler, der mit dem Rücken zu den Ankömmlingen an der Wand zur Ostseite hin stand und konzentriert mit einem kleinen Pinsel über die Leinwand fuhr, ohne sich umzusehen. »Momentan arbeitet er an dem Zyklus ›Tageszeiten‹. Sehen Sie: Hier ist der Sonnenaufgang, hier der Morgen, hier der Mittag, hier der Abend, und an der Decke die Nacht. Die Hauptsache ist, dass man rechtzeitig die Leinwand wechselt, sonst beginnt er ein neues Bild direkt auf dem alten. Ich habe in all den Jahren eine bedeutende Sammlung angelegt – eines Tages werde ich damit alle Ausgaben für die Klinik bestreiten können«, scherzte Korowin. »Und wenn nicht ich, dann meine Nachfolger.«
Vorsichtig näherte sich die Lissizyna dem Genie, das an der »Abendwand« arbeitete, von der Seite her, um Jessichin besser betrachten zu können.
Sie sah ein hageres, unaufhörlich Grimassen schneidendes Profil, grau melierte, schmutzige Strähnen, die in die Stirn hingen, einen speckigen Kittel, einen feinen Speichelfaden, der von einer welken Lippe herunterlief.
Das Bild selbst machte bei näherer Betrachtung auf die Besucherin einen ebenso unangenehmen, wenn auch unleugbar starken Eindruck. Ohne jeden Zweifel war es ein geniales Werk: Die erleuchteten Fenster der beiden gemalten Cottages, der Mond über ihren Dächern, die dunklen Silhouetten der Kiefern atmeten Geheimnis, Grauen und Sterben – es war nicht einfach eine Abendstimmung, sondern ein allumfassender Abend, Vorbote ewiger Finsternis und ewigen Schweigens.
»Warum erschüttert uns das Unangenehme und Hässliche in der Kunst mehr als die Schönheit, die den Blick erfreut?« Polina Andrejewna erschauerte. »In der Natur kommt das nie vor, dort gibt es auch Abscheuliches, doch nur als Hintergrund für das Schöne.«
»Sie sprechen über das Werk des Himmlischen Schöpfers, die Kunst aber ist das Werk irdischer Schöpfer«, erwiderte der Doktor, der die Bewegungen des Pinsels verfolgte. »Da haben Sie eine weitere Bestätigung dafür, dass Künstler ihren Stammbaum vom aufrührerischen Engel des Satans herleiten. Konon Petrowitsch!« Er erhob plötzlich die Stimme und klopfte dem Maler auf die Schulter. »Was soll denn das darstellen?«
Die Lissizyna sah, dass ein wenig abseits von einem der Cottages, in gleicher Höhe mit dem Dach, etwas Eigenartiges gemalt war: eine unnatürlich lang gezogene Gestalt in einem oben spitz zulaufenden schwarzen Kittel, auf langen, dünnen Beinen, die aussahen wie Spinnenbeine. Unwillkürlich blickte die junge Dame aus dem Fenster, doch dort konnte sie nichts Derartiges entdecken.
»Das ist ein Mönch«, bemerkte Polina Andrejewna mit unschuldiger Stimme. »Aber ein etwas seltsamer.«
»Das ist nicht bloß ein Mönch, sondern der schwarze Mönch, die Hauptsehenswürdigkeit von Kanaan«, nickte Donat Sawwitsch. »Sie haben wahrscheinlich von ihm gehört. Eines verstehe ich nicht . . .«Er klopfte dem Künstler noch einmal auf die Schulter, diesmal kräftiger. »Konon Petrowitsch!«
Der aber dachte überhaupt nicht daran, sich umzudrehen, und Frau Lissizyna machte sich innerlich bereit. Eine glückliche Verkettung von Umständen schien ihr die Aufgabe zu erleichtern. Warm, sehr warm!
»Der schwarze Mönch?«, fragte sie. »Das Gespenst von Wassilisk, das angeblich auf dem Wasser wandelt und alle erschreckt?«
Korowin machte ein finsteres Gesicht, weil er sich über den starrsinnigen Künstler ärgerte.
»Nicht nur das. Er hat auch noch angefangen, mir neue Patienten zu verschaffen.«
Noch wärmer!
»Konon Petrowitsch, ich rede mit Ihnen! Und wenn ich eine Frage stelle, gehe ich nicht eher, als bis ich eine Antwort habe«, sagte der Doktor streng. »Soll das hier Wassilisk sein? Wer hat Ihnen von ihm erzählt? Sie reden doch mit niemandem außer mit mir. Woher wissen Sie von ihm?«
Ohne sich umzudrehen, brummte Jessichin:
»Ich weiß nur, was meine Augen sehen.«
Er tippte kurz mit dem kleinen Pinsel an die schwarze Gestalt und Polina Andrejewna schien es, diese schwanke leicht, als könne sie im Wind ihr Gleichgewicht kaum halten.
»Neue Patienten?« Die Besucherin warf Korowin von der Seite her einen Blick zu. »Wohl auch interessante?«
»Ja, aber sehr schwere Fälle. Besonders einer, ein richtiger Junge noch. Er hockt im Palmenhaus, nackt wie der Urvater Adam, daher wage ich nicht, ihn Ihnen zu zeigen. Schnell fortschreitende traumatische Idiotie – er siecht vor unseren Augen dahin. Er lässt niemanden in seine Nähe, nimmt keine Nahrung von den Pflegern an. Er isst, was auf den Bäumen wächst, aber wie lange kann man von Bananen und Ananas leben? Noch eine Woche, im höchsten Falle zwei, und er stirbt – wenn ich keine Heilmethode finde. Aber leider ist mir das bis jetzt nicht gelungen.«
»Und der Zweite?«, fragte die neugierige Dame. »Ebenfalls Idiotie?«
»Nein, Entropose. Eine sehr seltene Erkrankung, die dem Autismus sehr nahe kommt, aber nicht angeboren, sondern erworben ist. Eine Heilmethode hat die Wissenschaft bislang noch nicht. Dabei war er ein ausgesprochen kluger Mann, ich habe ihn kennen gelernt, als er noch bei vollem Verstand war . . . Aber leider ist er innerhalb eines Tages – besser gesagt in einer Nacht – zum Wrack geworden.«
Heiß! Ach, wie glücklich sich alles fügte!
Frau Lissizyna seufzte:
»In einer Nacht? Was ist ihm denn nur zugestoßen?«
Der arme Tropf Berditschewski
»Der Mann wurde Opfer einer Halluzination, die durch vorhergehende Ereignisse sowie durch eine allgemeine krankhafte Anfälligkeit seiner Natur ausgelöst wurde und einen Schock hervorrief. In der ersten Zeit hat der Patient viel und leidenschaftlich geredet, daher ist mir die Natur der Erscheinung mehr oder weniger klar. Berditschewski (so heißt dieser Mann) ging aus irgendeinem Grunde mitten in der Nacht in ein verlassenes Haus, in dem kürzlich ein Unglück passiert ist. Auf sehr empfindsame Menschen üben solche Orte eine ganz besondere Wirkung aus. Ich werde Ihnen nicht alle fantastischen Einzelheiten wiedergeben, die man von diesem Haus erzählt, sie sind nicht so wichtig. Doch Berditschewskis Halluzination ist überaus typisch: Ihm erschien Wassilisk, und danach sah er sich lebendig in einen zugenagelten Sarg gelegt. Ein klassischer Fall von Überlagerung einer thanatophoben Depression durch eine präpubertäre mystische Psychose, die selbst bei sehr gebildeten Leuten stark verbreitet ist. Auslöser für das Wahngebilde waren vermutlich irgendwelche realen Ereignisse. Dort in der Hütte stand wirklich ein Sarg auf dem Tisch, den der frühere Bewohner des Hauses für sich gezimmert hatte, der aber nicht benutzt worden war. Das Zusammenspiel von Dunkelheit, Knarren, Schattenspiel und diesem schockierenden Gegenstand – all das führte bei Berditschewski zu einem Raptus.«