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Frau Lissizyna lauschte dieser klugen, mit wunderlichen Termini gespickten Lektion mit größter Aufmerksamkeit. Der Künstler hingegen mühte sich weiterhin an seiner Leinwand ab und bekundete nicht das geringste Interesse an der Erzählung, ja, er schien sie kaum zu hören.

»Wie bitte, er sah in dem dunklen Zimmer einen leeren Sarg und ist auf der Stelle übergeschnappt?«, fragte Polina Andrejewna ungläubig.

»Schwer zu sagen, was dort tatsächlich geschehen ist. Ohne jeden Zweifel hat Berditschewski etwas Ähnliches wie einen epileptischen Anfall gehabt. Er muss wohl über den Boden gerollt sein und sich an irgendwelchen Ecken und Gerätschaften gestoßen und in Krämpfen gewunden haben. Seine Hände waren verschrammt, die Nägel abgebrochen und die Finger voller Splitter, am Hinterkopf hatte er eine Beule, die Bänder am linken Sprunggelenk waren überdehnt, und er hatte sich eingenässt, was ebenfalls typisch ist für einen epileptischen Anfall.«

Die Zuhörerin konnte ihre Erregung nicht verbergen und bat:

»Lassen Sie uns an die frische Luft gehen. Diese Wände erdrücken mich . . .«

»Also ist dieser Unglückliche vollkommen verrückt?«, fragte sie leise beim Hinausgehen.

»Wer, der Künstler?«

»Nein, Berditschewski.«

Donat Sawwitsch breitete die Arme aus:

»Sehen Sie, bei einer Entropose zieht sich der Mensch Tag für Tag mehr in sich zurück, er reagiert mit der Zeit nicht mehr auf das, was um ihn herum vorgeht. Eine andere Bezeichnung für diese Krankheit lautet Petrose, weil der Kranke sich allmählich gleichsam in einen Stein verwandelt. Berditschewski hat infolge der Erschütterung einen vollkommenen Persönlichkeitszerfall erlitten. Aber schlimmer noch ist, dass er weiterhin nachts Halluzinationen hat. Er hat Angst, allein zu bleiben, also habe ich ihn im Cottage Nummer sieben untergebracht, wo ein anderer interessanter Patient wohnt, der seiner Beschäftigung nach Wissenschaftler ist, ein Physiker. Er heißt Sergej Nikolajewitsch Ljampe. Er ist ein gutmütiger Mensch, ein Engel geradezu, und daher hat er nichts gegen den Hausgenossen einzuwenden. Sie kommen ausgezeichnet miteinander aus. Ljampe stellt mit Berditschewski irgendwelche klugen Experimente an, die im Übrigen völlig harmlos sind, und beide sind zufrieden.«

Polina Andrejewna tat, als habe sich ihre sprunghafte Aufmerksamkeit nun dem verrückten Physiker zugewandt:

»Noch ein interessanter Patient? Ach, bitte erzählen Sie!«

Sie kamen auf die Wiese und blieben stehen. Das Tageslicht war beinahe verdämmert, in den Cottages und Klinikgebäuden brannte hier und da schon das Licht.

»Sergej Nikolajewitsch Ljampe ist wahrscheinlich auch ein Genie, wie Jessichin. Nur muss Jessichin sein Genie nicht mit Worten unter Beweis stellen – wenn er ein Bild malt, ist alles sofort klar. Ljampe hingegen ist Wissenschaftler, zudem betreibt er merkwürdige Forschungen, die an Scharlatanerie grenzen. Da bedarf es einleuchtender und möglichst beredter Erklärungen. Das Schlimme ist aber, dass Sergej Nikolajewitsch an einer ausgesprochen schweren Diskursivitätsstörung leidet.«

»Woran bitte?« Die Lissizyna verstand nicht.

»Eine Störung der zusammenhängenden Rede. Einfach ausgedrückt, seine Worte können mit den Gedanken nicht mithalten. Was er sagt, ist beinahe unmöglich zu verstehen. Selbst ich kann in neun von zehn Fällen nicht erraten, was er genau sagen will. Nun, und die anderen halten ihn ohnehin für einen Idioten. Doch Ljampe ist ganz und gar kein Idiot. Er hat das Gymnasium mit Auszeichnung abgeschlossen und war der Jahrgangsbeste an der Universität. Nur hat er nicht wie alle anderen studiert, sondern auf seine ganz besondere Weise: Er durfte alle Examina schriftlich ablegen, man hat für ihn eine Ausnahme gemacht.«

»Und worin besteht sein Genie?« Polina Andrejewna verfolgte behutsam ihr Ziel. »Was sind das für Versuche, die er anstellt mit diesem, wie heißt er noch gleich – Boguslawski?«

»Berditschewski«, verbesserte der Doktor. »Wenn Jessichin ein Genie des Bösen ist, dann ist Ljampe zweifellos ein Genie des Guten. Er hat die Theorie, dass alles um uns herum von unsichtbaren Strahlen durchdrungen ist und dass jeder Mensch eine Emanation aus verschiedenen Farben und Schattierungen verströmt. Sergej Nikolajewitsch hat viele Jahre für die Erfindung eines optischen Instruments aufgewandt, das imstande wäre, diese Aura zu erkennen und zu analysieren.«

»Und was ist das für eine Aura?«, fragte die Lissizyna, die das Gespräch vorläufig noch nicht wieder auf Berditschewski bringen wollte.

»Am meisten interessiert Sergej Nikolajewitsch die Emanation der Moral.« Korowin lächelte, aber nicht spöttisch, sondern eher gutmütig. »Irgendwelche wertvollen orangeroten Strahlen, an denen man seelische Vornehmheit und Gutherzigkeit erkennen kann. Ljampe behauptet, wenn man lernen würde, diese Emanation zu sehen, gäbe es keine bösen Men-sehen auf der Welt, weil diesen nämlich kein anderer Ausweg bliebe, als in sich die Strahlung des Orangespektrums zu entwickeln.«

»Was für ein außergewöhnlicher Mensch!«, verkündete die Besucherin energisch. »Ich muss ihn unbedingt sehen, koste es, was es wolle! Er soll meine orangefarbene Emanation untersuchen!«

Der Doktor zog seine Uhr aus der Tasche.

»Nun, Ljampe wird Sie wohl kaum untersuchen. Erstens schätzt er Frauen nicht übermäßig, und zweitens hat er einen strikten Tagesablauf. Um diese Zeit macht er seine Versuche, wenn ich mich nicht täusche. Wollen Sie sich das ansehen? Es ist ohnehin gleich nebenan. Da vorne ist es, Cottage Nummer sieben.«

»Sehr gerne!«

»Gut, ich erfülle Ihre Bitte. Und hinterher erfüllen Sie mir eine Bitte, abgemacht?«

Korowins Augen funkelten listig.

»Welche?«

»Das sage ich Ihnen nachher«, lächelte Donat Sawwitsch. »Keine Angst, ich verlange nichts Schlimmes von Ihnen.«

Sie waren unterdessen bei einem prächtigen zweistöckigen Blockhaus im Alpenstil angelangt, das mit einer breiten Treppe und einem gemeißelten Schornstein auf dem sanft abfallenden Dach versehen war.

An der Tür gab es weder einen Klopfer noch eine Klingel oder eine Glocke. Seltsamer aber noch erschien Polina Andrejewna, dass keine Türklinke vorhanden war – ihr war unklar, wie man eine solche Tür öffnen sollte.

Der Doktor erklärte es ihr:

»Sergej Nikolajewitsch lebt nach dem Prinzip: ›Ich brauche keine Fremden, ich freue mich immer über Freunde.‹ Das heißt, ein Fremder kann klopfen, solange er will, und kommt nicht hinein, aber die Freunde, die das Geheimnis kennen, können einfach so, ohne Voranmeldung, eintreten.«