Выбрать главу

Polina Andrejewna zerriss es vor Mitgefühl mit dem Kranken das Herz, aber wie man ihm helfen konnte, wusste sie nicht.

»Morpheogenum ist Unsinn«, brummte Ljampe. »Zu mir. Und ganz einfach. Zu zweit. Mir ist es egal, er hat keine Angst.«

»Sollen wir sein Bett in Ihrem Schlafzimmer aufschlagen? Wollen Sie das sagen?« Korowin fuhr zusammen. »Warum nicht, wenn er nichts dagegen hat, ist das vielleicht ein Ausweg.«

»He, Sie!«, rief der Physiker Berditschewski zu, als sei dieser taub. »Wollen Sie bei mir? Aber ich schnarche.«

Der Kranke tastete hastig nach den Armlehnen, erhob sich aus dem Sessel und fuchtelte mit den Händen. Die weinerliche Apathie wurde plötzlich von höchster Erregung abgelöst:

»Das möchte ich sehr gerne! Ich werde Ihnen ungewöhnlich, beispiellos dankbar sein! Mit Ihnen bin ich beruhigt! Schnarchen Sie, so viel Sie wollen, Herr Ljampe, das ist sogar noch besser! Ich bin Ihnen so dankbar, so dankbar!«

»Zum Teufel mit Ihrer Dankbarkeit!«, schrie Ljampe drohend. »Den Terror mit Höflichkeit – davonjagen!«

Matwej Benzionowitsch wollte sich für seine Höflichkeit entschuldigen, doch der Physiker schrie nur noch energischer auf ihn ein, und der Kranke verstummte.

Als der Doktor und seine Besucherin sich verabschiedeten, fragte der übergeschnappte Ermittler Frau Lissizyna schüchtern:

»Haben wir uns nicht schon einmal getroffen? Nein? Verzeihen Sie, verzeihen Sie. Ich habe mich wohl getäuscht. Das ist mir so unangenehm. Seien Sie mir nicht böse . . .«

Polina Andrejewna fing vor Mitleid beinahe an zu weinen.

Ein Skandal

Auf dem Rückweg sah Frau Lissizyna bekümmert und nachdenklich aus, der Doktor hingegen war anscheinend nach wie vor bester Laune. Hin und wieder warf er mit einem rätselhaften Lächeln einen Blick auf seine Begleiterin, und einmal rieb er sich sogar die Hände, wie in der Vorfreude auf etwas Interessantes oder Angenehmes.

Schließlich brach Donat Sawwitsch das Schweigen:

»Nun, Polina Andrejewna, ich habe Ihre Bitte erfüllt und Ihnen Ljampe gezeigt. Jetzt sind Sie an der Reihe. Erinnern Sie sich an unsere Abmachung? Eine Hand wäscht die andere.«

»Wie kann ich denn meine Schulden bei Ihnen begleichen?«, fragte die Lissizyna, die ein listiges Funkeln in den Augen des Psychiaters bemerkt hatte.

»Das ist ganz einfach. Bleiben Sie zum Abendessen bei mir. Nein, wahrhaftig«, fügte Korowin eilig hinzu, als er bemerkte, dass ein Schatten über das Gesicht der Dame lief, »es wird ein ganz unschuldiger Abend, außer Ihnen ist noch eine Person eingeladen. Und mein Koch ist ausgezeichnet, maître Armand aus Marseille. Er hält nichts von der Klosterküche, und für heute hat er Filet vom jungen Lamm mit einer deliziösen Sauce versprochen, außerdem Zander mit Krebsschwänzen gefüllt, Pastetchen Mignon und viele andere schmackhafte Dinge. Danach bringe ich Sie in die Stadt zurück.«

Die unerwartete Einladung kam Polina Andrejewna sehr gelegen, doch sie sagte nicht sogleich zu.

»Was für eine Person?«

»Eine schöne, überaus schillernde junge Dame«, erwiderte der Doktor mit einem undurchsichtigen Lächeln. »Ich bin sicher, Sie werden Gefallen aneinander finden.«

Frau Lissizyna hob das Gesicht zum Himmel, sah den Mond an, der hinter den Bäumen hervorgekrochen kam, und überlegte.

»Nun denn, gefüllter Zander – das klingt verlockend.«

Sie hatten noch nicht an dem für drei Personen gedeckten Tisch Platz genommen, als die »schillernde junge Dame« eintraf.

Von draußen erklang leichtes Hufgetrappel, Pferdegeschirr klirrte, und gleich darauf betrat ein schönes junges Mädchen (vielleicht auch eine junge Dame) in einem schwarzen Seidenkleid ungestüm das Speisezimmer. Sie schob ihren federleichten Schleier zurück und rief klangvolclass="underline" »Andre!«, stockte aber, als sie sah, dass noch eine dritte Person im Zimmer war.

Die Lissizyna erkannte in der stürmischen jungen Dame dieselbe Person, die an der Anlegestelle auf Kapitän Jonas gewartet hatte, und auch die Schöne erinnerte sich zweifellos an sie. Die feinen Züge verzerrten sich, wie damals am Anleger, zu einer Grimasse, nur war diese jetzt noch feindseliger. Die Nasenflügel erbebten, die schmalen Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, und in den (nach Polina Andrejewnas Meinung sogar überproportional) großen Augen funkelten böse Flämmchen.

»Nun sind alle versammelt!«, verkündete Donat Sawwitsch fröhlich und erhob sich. »Darf ich bekannt machen – Lidia Jewgenjewna Borejko, die schönste der Jungfrauen Kanaans, und das ist Polina Andrejewna Lissizyna, Pilgerin aus Moskau.«

Die rothaarige Dame nickte der Schwarzhaarigen mit einem überaus freundlichen Lächeln zu, das aber nicht erwidert wurde.

»Andre, ich habe Sie tausendmal gebeten, mir nicht immer meinen scheußlichen Familiennamen ins Gedächtnis zu rufen!«, rief Frau Borejko mit einer Stimme, die ein Mann wahrscheinlich als klingend beschrieben hätte, wohingegen Frau Lissizyna sie als unangenehm schrill empfand.

»Was ist denn Scheußliches an dem Namen Borejko?« fragte Polina Andrejewna mit einem noch zuvorkommenderen Lächeln, und als wolle sie ausprobieren, wie es klang, wiederholte sie: »Borejko, Borejko . . . Ein ganz gewöhnlicher Name.«

»Das ist es ja gerade«, erklärte der Doktor mit ernsthafter Miene. »Wir können alles* Gewöhnliche nicht ertragen, es ist vulgär. Lidia Jewgenjewna – das hört sich melodisch an, vornehm. Sagen Sie«, wandte er sich an die Dunkelhaarige, immer noch mit derselben respektvollen Miene, »warum tragen Sie immer Schwarz? Tragen Sie Trauer um Ihr Leben?«

Polina Andrejewna fing an zu lachen und wusste Korowins Belesenheit zu würdigen, Lidia Jewgenjewna jedoch erkannte das aus einem modernen Theaterstück stammende Zitat anscheinend nicht.

»Ich trauere darum, dass es auf der Welt keine echte Liebe mehr gibt«, erwiderte sie düster, während sie sich zu Tisch setzte.

Die Mahlzeit war in der Tat köstlich, der Doktor hatte nicht zu viel versprochen. Polina Andrejewna, die den ganzen Tag nichts gegessen hatte, würdigte die Tartelettes mit fein geschnittenen Artischocken ebenso nach Gebühr wie die Pastetchen mit Kalbsherz oder die winzigen canapés royaux – wie von Zauberhand leerte sich ihr Teller, um von neuem mit Speisen gefüllt zu werden und alsbald wieder leer vor ihr zu stehen.

In einem aber hatte Korowin sich getäuscht: Die Frauen fanden offenkundig kein Gefallen aneinander.

Besonders deutlich war das Lidia Jewgenjewnas Verhalten zu entnehmen. Sie nippte kaum an dem moussierenden Wein, rührte die Speisen überhaupt nicht an und betrachtete ihr Visavis mit unverhüllter Abneigung. In ihrer normalen Rolle als Nonne hätte Polina Andrejewna gewiss ein Mittel gefunden, um das Herz der feindseligen jungen Dame mit wahrhaft christlicher Demut zu rühren, doch die Rolle einer Dame der Gesellschaft rechtfertigte ein ganz anderes Benehmen.

Es zeigte sich, dass Frau Lissizyna die britische Kunst des looking down vorzüglich beherrschte, das heißt, auf jemanden herabzusehen – selbstverständlich im übertragenen Sinne, denn Mademoiselle Borejko war größer als sie. Das hinderte Polina Andrejewna jedoch nicht daran, sie über ihre hochmütig erhobene sommersprossige Nase hinweg zu betrachten und von Zeit zu Zeit mit den Brauen ein kaum merkliches Erstaunen anzudeuten, das, wenn es von einer nach der letzten Mode gekleideten Dame aus der Hauptstadt kam, das Herz jeder Provinzlerin empfindlich verletzen musste.

»Diese Puffärmel sind ganz reizend«, sagte die Lissizyna dann etwa, wobei sie mit dem Kinn auf Lidia Jewgenjewnas Schultern wies. »Ich selbst habe sie früher heiß geliebt. Es ist höchst bedauerlich, dass man in Moskau jetzt eng anliegende Ärmel trägt.«