Выбрать главу

»Ah-ah!« Polina Andrejewna stieß einen erstickten Schrei aus und fasste sich ans Herz.

Direkt vor ihrer Nase hing, leicht hin – und herschaukelnd, ein vollkommen nacktes, mageres menschliches Bein, das im matten Glanz des Mondes sahnigweiß schimmerte.

Und da, wenige Zoll daneben, aber nicht mehr im Licht, sondern im Schatten, baumelte auch das zweite Bein.

»Mein Gott, mein Gott. . .« Frau Lissizyna bekreuzigte sich, wagte aber nicht, den Kopf zu heben – sie wusste ja, was sie dort sehen würde: einen Erhängten mit aufgerissenen Augen, herausquellender Zunge und lang gerecktem Hals.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und tippte vorsichtig an das Bein – war es schon erkaltet?

Das Bein zuckte plötzlich zurück, von oben erklang ein Kichern, und mit einem Schrei, der noch durchdringender war als der vorherige, sprang Polina Andrejewna zurück.

Aljoscha Lentotschkin hing nicht, nein, er saß auf dem dicken, ausladenden Zweig eines unbekannten Baumes und schlenkerte sorglos mit den Beinen. Sein Gesicht war vom hellen Mondlicht übergossen, doch Polina Andrejewna erkannte den Cherub von früher fast nicht mehr, so abgemagert war er. Seine wirren Haare hingen verfilzt herab, seine Wangen hatten die kindlichen Rundungen verloren, Schlüsselbeine und Rippen standen hervor wie die Metallspitzen bei einem aufgespannten Regenschirm.

Frau Lissizyna wandte hastig den Blick ab, der unwillkürlich weiter nach unten geglitten war als erlaubt, schämte sich aber gleich darauf: Vor ihr stand kein Mann, sondern ein unglückliches, schwaches Wesen, nicht mehr das übermütige Hündchen, das den nachsichtigen Vater Mitrofani angekläfft hatte, sondern ein ausgesetztes Wolfsjunges – hungrig, krank, räudig.

»Das kitzelt«, sagte Alexej Stepanowitsch und kicherte wieder.

»Komm runter, Aljoschenka, komm herunter«, bat sie, obwohl sie Lentotschkin früher immer nur mit Vor – und Vatersnamen und mit »Sie« angeredet hatte. Doch unter diesen Umständen, da es um den Verstand des Jungen so traurig bestellt und er obendrein völlig nackt war, wäre es eigenartig gewesen, solche Förmlichkeiten zu wahren.

»Na komm schon.« Polina Andrejewna streckte ihm beide Arme entgegen. »Ich bin es, Schwester Pelagia. Erkennst du mich?«

In früheren Zeiten hatten Alexej Stepanowitsch und die geistliehe Tochter des Bischofs gegenseitig eine starke Abneigung empfunden. Ein – oder zweimal hatte der kühne Jüngling sogar versucht, sich mit der Nonne einen üblen Scherz zu erlauben, daraufhin aber eine unerwartet heftige Abfuhr erhalten, und seither hatte er so getan, als beachte er sie überhaupt nicht mehr. Doch jetzt ging es nicht um die frühere Rivalität oder dumme alte Rechnungen. Polina Andrejewna zerriss es das Herz vor Mitleid.

»Hier, sieh mal, was ich dir mitgebracht habe«, sagte sie freundlich, wie zu einem kleinen Jungen; aus ihrem Handarbeitsbeutel, den sie um den Hals hängen hatte, holte sie die Tartelettes, Canapés und Pastetchen hervor, die sie während des Essens geschickt von ihrem Teller hatte mitgehen lassen. Doktor Korowins Besucherin hatte also doch keinen so gewaltigen Appetit.

Der entblößte Faun sog gierig den Geruch ein und sprang herunter. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten, schwankte und fiel hin.

Er ist ja ganz schwach, seufzte Polina Andrejewna, und sie fasste den Jungen um die Schultern.

»So, nun iss!«

Sie musste Alexej Stepanowitsch nicht lange bitten. Gierig packte er zwei Pastetchen auf einmal und stopfte sie sich in den Mund. Er hatte sie noch nicht hinuntergeschluckt, als er die Hand wieder ausstreckte.

Noch eine Woche, höchstens zwei, und er stirbt, erinnerte die Lissizyna sich an die Worte des Arztes, und sie biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Und was nützte es nun, dass sie ihre Findigkeit unter Beweis gestellt und sich hierher durchgeschlagen hatte? Wie konnte sie ihm helfen? Denn es war offensichtlich, dass Lentotschkin sie bei ihren Nachforschungen nicht würde unterstützen können.

»Gedulden Sie sich, mein armer Junge«, sagte sie und strich über seine wirren Haare. »Wenn es sich um Ränke des Teufels handelt, ist Gott stärker. Wenn es sich aber um Intrigen böser Menschen handelt, dann werde ich sie aufdecken. Ich werde Sie ganz bestimmt retten. Ich verspreche es!«

Der Sinn der Worte war dem Verrückten wohl kaum begreiflich, aber der sanfte, freundliche Ton fand einen Widerhall in seiner verirrten Seele. Aljoscha schmiegte den Kopf an die Brust seiner Trösterin und fragte leise:

»Kommst du auch wieder? Bitte komm. Sonst holt er mich bald. Kommst du wieder?«

Polina Andrejewna nickte schweigend. Sprechen konnte sie nicht, die mit letzter Kraft zurückgehaltenen Tränen stiegen ihr die Kehle hoch.

Erst als sie das Palmenhaus verlassen hatte und ein wenig in das Wäldchen hineinging, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie setzte sich direkt auf den Boden und weinte um sie alle: um den unglücklichen Lentotschkin, um den apathischen, niedergeschlagenen Matwej Benzionowitsch, um Lagrange, der sich umgebracht hatte, und um das überanstrengte, kranke Herz von Bischof Mitrofani. Sie weinte lange, eine halbe Stunde, oder vielleicht auch eine Stunde, aber sie konnte sich noch immer nicht beruhigen.

Der Mond stand schon hoch am Himmelsgewölbe, irgendwo im Wald schrie ein Uhu, in den Fenstern der Cottages erloschen die Lichter, eines nach dem anderen, aber die verkleidete Nonne vergoss noch immer ihre Tränen.

Der unbekannte, aber schreckliche Gegner war ein schlauer Bursche, und jeder Schlag zog einen entsetzlichen, nicht wieder gutzumachenden Verlust nach sich. Das tapfere Heer des Sawolshsker Bischofs – Verteidiger des Guten, Jäger des Bösen – war geschlagen, und der Heerführer selbst lag von einer schweren, vielleicht tödlichen Krankheit ans Bett gefesselt darnieder. Von Mitrofanis ganzem Kriegsvolk war nur sie, eine schwache, schutzlose Frau, noch unversehrt. Die ganze Last der Verantwortung lag nun auf ihren Schultern, und sie konnte nicht den Rückzug antreten.

Dieser erschreckende Gedanke ließ ihre Tränen nicht noch heftiger fließen, wie es eigentlich hätte sein müssen, sondern paradoxerweise versiegen. Frau Lissizyna steckte das feuchte Taschentuch ein, erhob sich und ging durch das Buschwerk weiter.

Nachts in der Wohnstätte des Leidens

Es war jetzt leichter, sich auf dem Klinikgelände zu bewegen: Polina Andrejewna hatte bereits eine bessere Vorstellung von seiner Geografie, und der Mond stand hell leuchtend hoch am Himmel. Die Kriegerin wunderte sich flüchtig über das milde Klima, das der Insel selbst im November so klare, laue Nächte bescherte, und begab sich frischen Mutes zunächst zum Haus des Klinikherrn.

Doch die Fenster in der weißen, mit einer Kolonnade geschmückten Villa waren dunkel, der Doktor schlief schon. Die Lissizyna stand eine Weile davor und lauschte, hörte aber nichts Besonderes und ging weiter.

Nun führte sie ihr Weg zum Cottage Nummer drei, zu der Behausung des verrückten Künstlers.

Jessichin schlief nicht: Sein Haus war erleuchtet, und hinter dem hellen Rechteck eines Fensters huschte hin und wieder ein unruhiger Schatten vorbei.

Polina Andrejewna umrundete das Cottage, um von der gegenüberliegenden Seite aus hineinzuspähen.

Sie warf einen Blick hinein.

Konon Petrowitsch lief hastig an der Wand entlang und malte Mondflecke, die die Erde sprenkelten, auf das ›Abend‹-Bild. Das Gemälde war nunmehr vollendet, und in seiner Vollendung stand es dem Zauber des echten Abends in nichts nach, ja, es übertraf diesen vielleicht sogar. Doch Frau Lissizyna interessierte lediglich der Teil der Leinwand, wo der Künstler die längliche schwarze Silhouette auf Spinnenbeinen gemalt hatte. Poli-na Andrejewna blickte sie lange an, als versuche sie, eine knifflige Rätselaufgabe zu lösen.