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Dann steckte Jessichin den Pinsel in seinen Gürtel und kletterte auf eine Stehleiter, die mitten im Raum aufgebaut war. Die Beobachterin presste Wange und Nase gegen die Scheibe, um zu erkennen, was der Künstler da oben machen würde.

Konon Petrowitsch ging nach der Vollendung des ›Abends‹ sogleich daran, die ›Nacht‹ zu Ende zu malen, ohne sich die kleinste Atempause zu gönnen.

Die Lissizyna schüttelte den Kopf und gab die Beobachtung auf.

Der nächste Punkt auf ihrer Route war das Cottage Nummer sieben, nebenan, wo der Physiker Ljampe mit seinem Gast wohnte.

Auch hier schlief man noch nicht. In allen Fenstern im Erdgeschoss brannte Licht. Polina Andrejewna erinnerte sich: Das Schlafzimmer lag links vom Eingang, das Laboratorium rechts. Matwej Benzionowitsch befand sich wahrscheinlich im Schlafzimmer.

Sie hielt sich mit den Händen am Fensterbrett fest, stemmte den Fuß gegen einen Mauervorsprung und spähte hinein.

Sie sah zwei Betten. Das eine war zugedeckt und leer. Neben dem anderen brannte eine Lampe, in den hoch aufgetürmten Kissen befand sich ein Mann in halb sitzender, halb liegender Lage, der seinen Kopf nervös bald nach links, bald nach rechts drehte. Berditschewski!

Die Kundschafterin reckte den Hals, um zu sehen, ob Ljampe im Zimmer war, und dabei streifte der Verschluss ihrer Kapuze mit einem leichten Klirren die Fensterscheibe; es war kaum zu hören, doch Matwej Benzionowitsch zuckte zusammen und wandte sich zum Fenster. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schreck. Der stellvertretende Staatsanwalt machte eine krampfhafte Bewegung mit dem Unterkiefer, als wolle er einen Schrei ausstoßen, doch dann rollte er mit den Augen und ließ bewusstlos den Kopf aufs Kissen sinken.

Ach, wie dumm! Polina Andrejewna schrie vor Ärger auf. Als der unglückliche Kranke im Fenster die schwarze Silhouette mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erblickte, musste er natürlich annehmen, ihm sei erneut Wassilisk erschienen. Sie musste Matwej Benzionowitsch diesen Irrtum erklären, selbst wenn es ein Risiko war.

Sie versuchte nicht weiter, sich zu verbergen, sondern presste das Gesicht gegen die Scheibe, überzeugte sich davon, dass der Physiker nicht im Schlafzimmer war, und schritt zur Tat.

Das Fenster war natürlich verriegelt, doch für die Turnlehrerein war das angelehnte Lüftungsfensterchen völlig ausreichend.

Die Lissizyna ließ den Mantel zu Boden fallen, da er ihre Bewegungsfreiheit einengte, und vollbrachte ein wahres Wunder an Gelenkigkeit, als sie sich blitzschnell durch die schmale Öffnung wand. Sie stützte sich mit den Fingern auf der Fensterbank ab, vollführte einen bemerkenswerten Purzelbaum in der Luft (wobei ihr Rock sich zu einer unziemlichen Glockenform aufblähte, aber es gab ja keine Zeugen) und landete geschickt auf dem Boden. Sie machte nur sehr wenig Lärm. Polina Andrejewna wartete, ob nicht im Korridor Schritte erklangen, doch nein, es war alles gut gegangen. Der Physiker war wohl zu sehr abgelenkt von seinen merkwürdigen Experimenten.

Sie zog einen Stuhl ans Bett und strich dem Kranken behutsam über die eingefallenen Wangen, die gelbliche Stirn und die gequält zusammengekniffenen Lider. Sie befeuchtete ein Tuch mit Wasser aus einem Glas, das auf dem Nachttisch stand, und rieb dem Kranken die Schläfen ab. Seine Wimpern zuckten.

»Matwej Benzionowitsch, ich bin es, Pelagia«, flüsterte sie, dicht an sein Ohr geneigt.

Er schlug die Augen auf, erblickte das sommersprossige Gesicht mit den besorgt aufgerissenen Augen und lächelte.

»Schwester . . . Was für ein schöner Traum . . . Ist der Bischof auch hier?«

Berditschewski drehte den Kopf, offenbar in der Hoffnung, auch Vater Mitrofani zu sehen. Als er ihn nicht entdeckte, klagte er missmutig;

»Wenn ich nicht schlafe, ist es schlimm. Am besten wäre es, gar nicht mehr aufzuwachen.«

»Gar nicht mehr aufwachen – so ein Unsinn.« Polina Andrejewna strich dem armen Kerl noch immer über das Gesicht. »Aber es würde Ihnen gut tun, wenn Sie jetzt ein wenig schlafen könnten. Schließen Sie die Augen, atmen Sie tief durch. Sie werden sehen, dann erscheint Ihnen auch der Bischof im Traum.«

Matwej Benzionowitsch kniff gehorsam die Augen zusammen, atmete tief und eifrig – offenbar wünschte er sich sehr, vom Bischof zu träumen.

Vielleicht ist doch nicht alles so schlimm, sagte sich Polina Andrejewna, um sich zu trösten. Wenn ich sage, wer ich bin, erkennt er mich. Und an den Bischof erinnert er sich auch.

Frau Lissizyna behielt die Tür im Auge und warf einen Blick in den Nachttisch. Nichts Bemerkenswertes: Taschentücher, ein paar leere Blatt Papier, ein Portemonnaie. Im Portemonnaie Geld und eine Fotografie seiner Frau.

Dafür fand sich unter dem Bett eine gelbe Reisetasche aus Schweinsleder. Am Schloss hing ein kleines Kupferschild mit dem Namen F. S. Lagrange. Darin befand sich das von Berditschewski gesammelte Untersuchungsmateriaclass="underline" das Protokoll von Lagranges Leichenschau, Alexej Stepanowitschs Brief an den Bischof, der in einen Lappen eingewickelte Revolver (Polina Andrejewna schüttelte nur den Kopf – schön dumm von Korowin, das musste man sagen, dass er keine Zeit gefunden hatte, einen Blick auf die Sachen des Patienten zu werfen), und noch zwei andere Gegenstände unbekannter Herkunft: ein weißer Handschuh mit einem kleinen Loch und ein schmutziges Batisttüchlein.

Die Reisetasche beschloss die Lissizyna mitzunehmen – wozu brauchte Berditschewski sie noch? Sie sah sich um, ob es im Zimmer sonst noch etwas gab, was sie gebrauchen könnte. Auf dem Nachttisch von Ljampes Bett sah sie ein dickes Heft. Sie zögerte kurz, nahm es dann an sich, trug es zur Lampe und begann, es durchzublättern.

O weh, es war unmöglich, von all diesen Formeln, Tabellen und Kürzeln etwas zu verstehen. Auch war die Handschrift des Physikers nicht deutlicher, als seine Art zu reden. Polina Andrejewna seufzte enttäuscht und schlug das Titelblatt auf. Als eine Art Motto stand dort mehr oder weniger leserlich geschrieben:

Messen, was messbar ist – messbar machen, was nicht messbar ist.

G. Galilei

Jetzt war es aber genug!

Die ungebetene Besucherin legte das Heft wieder an seinen Platz und kletterte durch das Lüftungsfenster zurück. Zuerst warf sie die Reisetasche hinaus (es war nichts darin, was kaputtgehen konnte), dann zwängte sie sich selbst hindurch.

Der Abstand zum Erdboden draußen war größer als der zu den Dielen im Zimmer, doch der Purzelbaum gereichte ihr wieder zur Ehre. Die biegsame Springerin landete wohlbehalten in der Hocke, richtete sich auf und schüttelte den Kopf: Nach dem hell erleuchteten Schlafzimmer schien ihr die Nacht undurchdringlich, und wie zum Trotz hatte sich auch noch der Mond hinter einer Wolke verkrochen.

Frau Lissizyna beschloss zu warten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und stützte sich mit der Hand an der Mauer ab. Doch mit Polina Andrejewnas Gehör war alles in Ordnung, und als sie hinter ihrem Rücken ein Geräusch vernahm, drehte sie sich schnell um.

Ganz in der Nähe, vielleicht einen Klafter entfernt, tauchte eine schmale schwarze Gestalt aus dem Dunkel auf. Frau Lissizyna, vor Schreck ganz starr, erkannte deutlich eine spitz zulaufende Kapuze mit Sehschlitzen und bemerkte, wie die unheimliche Silhouette sich um die eigene Achse drehte, woraufhin ein Pfeifen die Luft zerschnitt und von der Seite her ein mit aller Kraft geführter Schlag auf ihren Schädel niedersauste.

Polina Andrejewna stürzte hintüber und fiel rücklings auf die Reisetasche von Lagrange.

Neue Sünden

Erst am nächsten Morgen konnte die Lissizyna das ganze Ausmaß des erlittenen Schadens erkennen.

Wie lange sie ohnmächtig an der Mauer von Cottage Nummer sieben gelegen hatte, bevor sie vor Kälte wieder zu sich gekommen war, wusste sie nicht mehr. Taumelnd und sich den Kopf haltend hatte sie sich ins Hotel geschleppt, sie konnte sich nicht erinnern, wie. Ohne sich auszuziehen, war sie auf das Bett gesunken und sofort in einen tiefen, an Bewusstlosigkeit grenzenden Dämmerzustand gefallen.