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Bald wurde ihr schlecht; das Blut schoss ihr in den herabhängenden Kopf, das Schaukeln verursachte ihr Übelkeit, und vor allem ließ das verdammte Sackleinen, das völlig verstaubt war, sie nicht atmen. Polina Andrejewna musste niesen, doch es ging nicht – versuchen Sie das mal mit einem Knebel im Mund!

Am schlimmsten aber war, dass der Räuber anscheinend beabsichtigte, seinen Fang unglaublich weit weg zu schaffen, bis ans Ende der Welt. Er ging und ging unaufhörlich weiter, ohne einmal zu verschnaufen, ja ohne anzuhalten, und die quälende Reise nahm kein Ende. Der Gefangenen, der allmählich die Sinne schwanden, kam es vor, als liege die Insel Kanaan längst hinter ihnen (dort gab es nirgends solche Weiten), und ein Riese marschiere mit ihr über die Wasser des Blauen Sees.

Als Frau Lissizyna vor Übelkeit und Atemnot bereits kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, klangen die Schritte des geheimnisvollen Bösewichts plötzlich nicht mehr dumpf, sondern knarrend, und dem Schwanken des Gehens gesellte sich ein anderes Schwanken hinzu, als woge die Erde unter ihnen. Es ist doch wohl nicht wirklich Wasser, schoss es ihr durch die schwindenden Sinne. Aber woher kam dann das Knarren?

Hier fand die beschwerliche Wanderung schließlich ein Ende. Das Bündel wurde ohne viel Federlesens auf etwas Hartes geworfen, nicht auf die Erde, sondern eher auf einen Bretterboden. Ein Knirschen ertönte, das Quietschen verrosteter Türangeln. Dann wurde die Gefangene wieder hochgehoben, aber nicht mehr horizontal, sondern vertikal, zudem mit dem Kopf nach unten, und in ein Loch oder eine Grube hinuntergelassen – an einen Ort jedenfalls, der viel tiefer lag als der Boden. Polina Andrejewna stieß mit dem Scheitel gegen etwas Festes, dann wurde der Sack fallen gelassen, und er schlug polternd auf etwas Flachem auf. Von oben quietschte und knirschte es wieder, eine Tür schlug zu. Mit einem dumpfen Dröhnen entfernten sich Schritte, als ginge jemand über die Decke, und es wurde still.

Die Lissizyna lag eine Weile da und lauschte. Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser, und zwar sehr viel Wasser. Was gab es sonst noch zu sagen über ihr Gefängnis (nach dem Quietschen der Tür zu urteilen hatte man sie irgendwo eingesperrt)? Vermutlich lag es nicht auf dem Festland, sondern auf einem Schiff, und das Wasser plätscherte nicht einfach so – es schlug an die Bordwand oder vielleicht gegen den Anleger. Als sie ihr Gehör noch mehr anstrengte, vernahm Polina Andrejewna ein leises Fiepen, das ihr aus irgendeinem Grunde ganz und gar nicht gefiel.

Nachdem sie erste Eindrücke gesammelt hatte, ging sie ans Werk.

Zuallererst musste sie sich von dem widerlichen Sackleinen befreien. Die Lissizyna wälzte sich vom Rücken auf die Seite, dann auf den Bauch und wieder auf den Rücken, bis sie gegen eine Wand stieß. Es gelang ihr nicht, sich vollständig zu befreien, sie war immer noch fest eingewickelt, aber der obere Teil des Sackleinens hatte sich gelöst, sodass sie nun zwei weitere Sinnesorgane einsetzen konnte: den Geruchssinn und das Sehen. Letzteres nützte ihr allerdings nicht viel – außer undurchdringlicher Finsternis konnten die Augen der Eingekerkerten nichts erkennen. Was den Geruchssinn anging, so roch es in ihrem Gefängnis nach Brackwasser, altem Holz und Fisch. Vielleicht noch nach rostigem Eisen. Im Großen und Ganzen brachte das alles keine Klarheit.

Doch nach etwa zehn Minuten, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sich heraus, dass die Finsternis nicht gar so undurchdringlich war. In der Decke gab es schmale, lange Ritzen, durch die Licht sickerte – wenn auch spärlich, nur wenig besser als die Schwärze, aber wenigstens ein bisschen Licht. Dank dieser düster-grauen Beleuchtung begriff Polina Andrejewna mit der Zeit, dass sie in einem engen, mit Brettern verkleideten Raum lag – allem Anschein nach im Kielraum eines kleinen Fischkutters (wie sonst war der durchdringende Geruch nach Fisch zu erklären?).

Der Kahn schien vollkommen altersschwach zu sein, nicht nur an der Decke drang das Licht durch die Spalten, sondern auch oben an den Bordwänden. Bei hohem Wellengang würde dieser Panzerkreuzer gewiss Wasser schlucken oder vielleicht sogar komplett untergehen.

Doch die Navigationsaussichten des gebrechlichen Schiffs machten Frau Lissizyna bedeutend weniger Sorgen als ihr eigenes Schicksal. Denn die ohnehin schon schlimme Angelegenheit nahm unterdessen eine unerwartete und äußerst unangenehme Wendung.

Das Fiepen, das auch vorher schon zu hören gewesen war, verstärkte sich, und ein kleiner Schatten huschte über das Sackleinen. Dann ein zweiter, ein dritter.

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen beobachtete die Gefangene, wie sich eine Mäuseschar langsam auf ihr Kinn zubewegte.

Die Bewohner des Kielraums hatten sich anfangs wahrscheinlich versteckt, jetzt aber beschlossen zu erkunden, was für ein gigantischer Gegenstand da so plötzlich in ihrem Mäuseuniversum aufgetaucht war.

Polina Andrejewna war keineswegs feige, doch die kleinen, flinken, raschelnden Bewohner der finsteren Unterwelt riefen bei ihr immer Widerwillen und ein unerklärliches, mysteriöses Entsetzen hervor. Wären die Fesseln nicht gewesen, hätte sie dieses widerliche Loch mit einem Kreischen blitzschnell verlassen. So aber hatte sie nur zwei Möglichkeiten: entweder beschämend und vor allem sinnlos zu brüllen und den Kopf hin und her zu werfen, oder aber den Verstand zu Hilfe zu rufen.

Denk doch nur, Mäuse, sagte sich Frau Lissizyna. Vollkommen harmlose Tierchen. Sie schnuppern an dir und verschwinden wieder.

Da fielen ihr die Ratten ein, die den Stadthauptmann beschnuppert hatten, und Polina Andrejewna tröstete sich zusätzlich mit der Überlegung, dass Mäuse keine Ratten sind, nicht über Menschen herfallen und nicht beißen. Eigentlich war es sogar lustig. Sie haben ebenfalls schreckliche Angst, da – nur mühsam krabbeln sie hoch, wie die Liliputaner bei Gulliver.

Ein kalter Schweißtropfen rollte ihr über die Schläfe. Die mutigste Maus war ganz nah herangekommen. Polina Andrejewnas Augen hatten sich inzwischen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie die Besucherin in allen Details erkennen konnte, bis zu ihrem kurzen, abgenagten Schwanz. Die widerliche Kreatur kitzelte mit ihren Barthaaren das Kinn der Rationalistin, und der Verstand kapitulierte unverzüglich.

Die Gefangene bäumte sich mit dem ganzen Körper auf, stieß einen lauten Schrei aus und wälzte sich zurück in die Mitte des Kielraums. Das befreite sie von den Mäusen, doch dafür hatte sie sich jetzt wieder in das Sackleinen eingewickelt. Dann schon besser so, sagte sich die Lissizyna, während sie auf das wilde Klopfen ihres Herzens lauschte.

Doch es waren keine fünf Minuten vergangen, als auf dem Sackleinen, direkt über ihrem Gesicht, erneut hartnäckige kleine Pfoten kratzten. Polina Andrejewna stellte sich vor, was geschehen würde, wenn die Maus mit dem kurzen Schwanz sich in den Sack zwängen würde, und wälzte sich schnell wieder zurück zur Wand.

Sie lag da und atmtete durch die Nase. Sie wartete.

Und bald wiederholte sich das Ganze: das Fiepen, der vorsichtige Marsch über ihre Brust, das Herumwälzen auf dem Boden.

Nach einiger Zeit wurde es zur Routine: Die Gefangene warf die ungebetenen Gäste ab, indem sie sich in dem Sackleinen hin und her rollte. Die Mäuse fanden anscheinend Geschmack an diesem interessanten Spiel, und mit der Zeit wurde der Abstand zwischen ihren Besuchen immer kürzer. Polina Andrejewna kam sich allmählich vor wie der Zug aus einer Rechenaufgabe, der mit immer kürzeren Haltezeiten von Punkt A nach Punkt B und zurück fährt.

Als über ihr (man musste annehmen, auf dem Deck) Schritte erklangen, erschrak die Lissizyna nicht, sondern sie freute sich. Komme, was da wolle, wenn nur dieser schauderhafte Walzer aufhörte!

Es kamen zwei: zu dem schwerfälligen Bärengang, den Polina Andrejewna bereits vorher gehört hatte, gesellten sich leichte, klappernde Schritte.

Die Luke polterte, und die Gefangene blinzelte – so grell schien ihr das blaugraue Licht der Nacht.