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Die Kaiserin von Kanaan

Eine gebieterische Frauenstimme sagte:

»Nun zeig sie mir schon!«

Polina Andrejewna lag gerade am Haltepunkt B, an der Wand, sodass ihr Gesicht frei war, und sie sah, dass eine Anlegeleiter heruntergelassen wurde.

Mit den Absätzen voran kamen riesige Stiefel die Sprossen heruntergepoltert, darüber wehte der Saum einer schwarzen Kutte.

Das blendende Licht einer Kerosinlampe flackerte an der Decke und an den Wänden. Die gigantische Gestalt, die beinahe den halben Kielraum einnahm, drehte sich um, und die Lissizyna erkannte ihren Entführer.

Bruder Jonas, der Kapitän des Dampfers »Heiliger Wassilisk« !

Der Mönch stellte die Lampe auf den Boden und postierte sich neben der am Boden liegenden Gefangenen, die Hände über dem Bauch gefaltet.

Die Frau, deren Gesicht Polina Andrejewna nicht sehen konnte, setzte sich an der geöffneten Luke in die Hocke, feiner Stoff raschelte, und ihre Stimme, die Polina Andrejewna nun seltsam bekannt vorkam, befahclass="underline"

»Wickle sie aus, ich sehe ja nichts.«

Lidia Jewgenjewna Borejko, die hysterische Besucherin von Doktor Korowin!

Bevor die Gefangene noch verstehen konnte, was vor sich ging, zerrten derbe Hände sie mit einem Ruck aus dem Sackleinen und ließen sie auf den Boden fallen.

Polina Andrejewna setzte sich mit Mühe und Not auf und schleppte sich dann zu einem hölzernen Vorsprung, der sich am Boden um den ganzen engen Raum zog. Es war dieser Vorsprung, gegen den sie gestoßen war, als sie sich auf dem Boden hin – und hergewälzt hatte, und keine Wand! Er war unbequem zum Sitzen, aber immerhin war das würdiger, als auf dem Boden zu liegen. Auch wenn von Würde kaum die Rede sein konnte, wenn man nur in der Unterwäsche dasaß, mit gefesselten Armen und Beinen und einem Knebel im Mund.

Frau Borejko stieg die Sprossen herab, aber nicht bis ganz unten, sondern sie blieb in einer erhöhten Position stehen. Unter dem schwarzen Samtmantel sah man ein Seidenkleid, ebenfalls schwarz, am Hals schimmerte triumphierend eine Reihe großer Perlen. Polina Andrejewna bemerkte, dass Korowins Bekannte heute noch üppiger herausgeputzt war als bei ihrer letzten Begegnung: An den Fingern funkelten Ringe, an den Handgelenken Armbänder, und selbst der Schleier war kein gewöhnlicher, sondern in der Art eines goldenen Spinnennetzes gearbeitet, kurz, Lidia Jewgenjewna sah wahrhaft majestätisch aus. Der Kapitän betrachtete sie begeistert – nein, nicht begeistert, sondern ehrfürchtig, so wie die Heiden wahrscheinlich die goldgesichtige Göttin Ischtar betrachtet hatten.

Frau Borejko warf der nichtswürdigen Gefangenen einen verächtlichen Blick zu und sagte:

»Sieh mich an, und sieh dich an! Du bist eine erbärmliche, schmutzige, vor Furcht zitternde Sklavin. Und ich bin die Kaiserin. Diese Insel gehört mir, es ist meine Insel! Ich herrsche über dieses Männerreich, und zwar uneingeschränkt! Jeder Mann, der hier lebt, und jeder, der hierher kommt, wird mein – wenn ich es wünsche. Ich bin Kalypso, ich bin die Nördliche Semiramis, ich bin die Kaiserin von Kanaan! Wie konntest du es wagen, du rothaarige Katze, nach meiner Krone zu trachten? Du Usurpatorin! Du bist mit der Absicht gekommen, mir meinen Thron abspenstig zu machen! Das habe ich sofort begriffen, als ich dich dort an der Anlegestelle zum ersten Mal sah. Solche wie du verirren sich sonst nicht hierher, sonst kommen nur ruhige, fromme Mäuschen, aber du feuerrote Füchsin wolltest meinen Hühnerstall haben!«

Bei der Erwähnung der Mäuse schielte Polina Andrejewna zum Boden, doch die kleinen Partner des schrecklichen Spiels hatten sich offenbar vor dem Lärm und dem Licht in den Spalten verkrochen.

»Die Heiligtümer von Ararat interessieren dich gar nicht!«, fuhr die Furcht erregende Lidia Jewgenjewna mit ihrer erstaunlichen Rede fort. »Mein Sklave« (dabei deutete sie auf Jonas), »ist dir gefolgt. Du hast keine einzige Kirche besucht, keine einzige Kapelle! Wozu auch, schließlich bist du ja nicht deshalb hier!«

Also das war des Rätsels Lösung! Die Erkenntnis der Ermittlerin kam spät – zu spät. Alle ihre Vermutungen, die wahrscheinlichen wie die unwahrscheinlichen, waren falsch. Die Wahrheit war fantastisch, unvorstellbar! Wie hätte sie auch ahnen können, dass eine der Einwohnerinnen sich zur »Kaiserin von Kanaan« proklamiert hatte! Deshalb also hatte sich die glänzende Frau Borejko auf dieser abgelegenen Insel niedergelassen, deswegen wollte sie nicht weg von hier! Sie war unbestreitbar schön, elegant, auf ihre Art sogar majestätisch. Doch in Petersburg wäre sie eine von vielen, in der Gouvernementsstadt eine von mehreren gewesen, und selbst in der tiefsten Provinz mochte sich eine Rivalin finden. Hier hingegen, in dieser kleinen Männerwelt, gab es keine, die sich mit ihr messen konnte. Damen der Gesellschaft gab es überhaupt keine, die Frauen aus dem einfachen Volk zählten nicht. Und die Pilgerinnen, die hierher kamen, hatten anderes im Sinn: Sie trugen fromme Mienen zur Schau, gingen in schwarze Tücher gehüllt und hatten keine Augen für Männer – warum auch, gab es doch dort, woher sie kamen, um für ihre Sünden um Vergebung zu flehen, mehr als genug Kavaliere.

Die Borejko hatte sich hier auf der Insel ihren eigenen Staat eingerichtet. Und sie hatte ihren persönlichen Dschinn, ihren treuen Sklaven – Kapitän Jonas. Das war er, der schwarze Mönch, in höchsteigener Person! Er stand da mit einem törichten, seligen Lächeln auf seinem wettergegerbten Gesicht. Jemand wie er würde ergeben jeder Laune seiner Gebieterin nachkommen, sogar ein Verbrechen begehen. Würde sie anordnen, die Untergebenen in Angst und Schrecken zu versetzen, ihrem Herzen eine mystische Furcht einzupflanzen – Jonas würde es tun. Würde sie befehlen, zu töten, jemanden um den Verstand zu bringen, zu entführen – er würde auch das ausführen, ohne zu zaudern.

Polina Andrejewna war so erschüttert, dass sie gar nicht dazu kam, die möglichen Motive für dieses ungeheure Vorhaben zu durchdenken, doch eines wusste sie ganz sicher: Weiblicher Ehrgeiz ist unmäßiger und absoluter als der männliche; wenn er sich von irgendeiner Seite bedroht fühlt, ist er zu jeder Tücke und Grausamkeit bereit. Man musste die wutschnaubende »Kaiserin« über den Irrtum aufklären, dem sie hinsichtlich der Absichten der angeblichen Pilgerin erlegen war (Polina Andrejewna brauchte die Männer von Neu-Ararat, ja Männer überhaupt, ganz gewiss nicht), andernfalls würde Lidia Jewgenjewna in ihrer Erbitterung noch eine Freveltat begehen. Was würde ihr das noch ausmachen, nach alldem, was sie schon begangen hatte?

Die an den Handgelenken zusammengebundenen Hände wollte nach dem Knebel greifen, aber da war nichts zu machen: Der geschickte Seemann hatte die Fesseln an Händen und Füßen miteinander verbunden, sodass es unmöglich war, den straffen Knoten am Hinterkopf zu erreichen.

Die Gefangene begann zu brüllen und gab zu verstehen, dass sie etwas sagen wollte. Es klang jämmerlich, doch Lidia Jewgenjewna ließ sich nicht erweichen.

»Suchst du Mitleid? Zu spät! Andere hätte ich dir verziehen, aber ihn – niemals!« Ihre Augen funkelten so hasserfüllt, dass Polina Andrejewna erkannte: Sie würde ihr ohnehin nicht zuhören, für sie war längst alles entschieden.

Wen Lidia Jewgenjewna ihr nicht verzeihen wollte, erfuhr die Lissizyna freilich nicht, weil die Klägerin stolz die Arme in die Seiten stemmte, mit der Geste einer römischen Kaiserin, die einen Gladiator zum Tode verdammt, die Hand nach unten streckte und verkündete:

»Dein Urteil ist gefällt und wird sofort vollstreckt. Jonas, hältst du deinen Schwur?«

»Ja, Kaiserin«, erwiderte der Kapitän heiser. »Ich mache alles, was du willst.«

»Dann fang an!«

Jonas kramte in einer dunklen Ecke herum und zog ein Brecheisen hervor. Er spuckte in die Hände und packte das Brecheisen fester.