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Frau Lissizyna lag erst zwanzig, dann fünfzig und dann hundert Schritte vorn. Das Trampeln der Stiefel war beinahe nicht mehr zu hören. Doch jedes Mal, wenn sie sich umblickte, sah sie den hartnäckigen Kapitän, der gar nicht daran dachte aufzugeben und noch immer hinter ihr herlief.

Der Pfad lag völlig verlassen, zu beiden Seiten erstreckten sich nackte Wiesen – kein einziges Haus, nur niedrige Wirtschaftsgebäude, dunkel und menschenleer. Sie konnte sich auf nichts verlassen als auf ihre eigenen Beine.

Die Füße stießen sich gleichmäßig von dem federnden Boden ab: eins, zwei, drei, vier – einatmen, eins, zwei, drei, vier – ausatmen, aber die gefesselten Hände störten sie, je länger sie lief, desto mehr. Gemäß der englischen Sportwissenschaft waren ein weit ausholender Schwung der Arme und die tatkräftige Mitwirkung von Ellbogen und Schultern Voraussetzung für das richtige Laufen, aber davon konnte mit zusammengebundenen Handgelenken und mit vor die Brust gepressten Händen keine Rede sein.

Dann, als der Weg allmählich leicht anstieg, ging ihr die Luft aus. Entgegen der richtigen Technik atmete Polina Andrejewna schon sowohl mit dem Mund als auch mit der Nase und auch nicht mehr zwischen dem vierten und dem fünften Laufschritt, sondern wie es gerade kam. Sie stolperte mehrmals und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Das Trampeln der Stiefel kam allmählich näher, und die Lissizyna erinnerte sich, dass die neuesten Richtlinien für die Olympischen Spiele neben dem Sprint, also dem Kurzstreckenlauf, auch noch den Langstreckenlauf vorsahen. In dieser Disziplin würde wohl eher Bruder Jonas den Sieg davontragen.

Der Nebel löste sich auf, und die Morgendämmerung gewann allmählich an Kraft, sodass man nun sehen konnte, welche Distanz noch zu überwinden war. Linker Hand, etwa eine Werst, wenn nicht eineinhalb entfernt, zeichneten sich die verschlafenen grauen Umrisse der Stadt mit ihren Glockentürmen ab. So weit würde Polina Andrejewna, deren Kräfte inzwischen erschöpft waren, nicht mehr laufen können, ihre ganze Hoffnung setzte sie darauf, dass ihr jemand begegnen und sie retten würde. Und wenn nicht?

Rechter Hand, nicht mehr als dreihundert Schritt entfernt, schimmerte an der Klippe ein einsamer weißer Turm, wahrscheinlich ein Leuchtturm. Dort musste doch jemand sein!

Halb laufend, halb gehend, stürzte sie keuchend auf den schmalen, steinernen Turm zu. Sie hätte schreien und um Hilfe rufen müssen, doch dafür reichten ihre Kräfte nicht mehr.

Erst als sie schon ganz dicht beim Leuchtturm war, bemerkte die Lissizyna die kreuzweise mit Brettern vernagelten Fenster, den mit bräunlichem Gras überwucherten Hof und den zur Hälfte eingestürzten Zaun.

Der Leuchtturm war verlassen, unbewohnt!

Sie rannte noch ein Stück weiter darauf zu, ohne Sinn, einfach aus dem Lauf heraus. Sie stolperte über einen kleinen Erdhügel und fiel unmittelbar vor dem windschiefen Flügel des geöffneten Tors zu Boden.

Sie hatte keine Kraft, sich zu erheben, und warum auch? Stattdessen stützte sie sich auf die Ellbogen, sie warf den Kopf zurück und fing an zu weinen. Nicht, weil sie um Hilfe rufen wollte (wer würde sie hier hören?), sondern aus Verzweiflung. Da bin ich, o Herr, die Nonne Pelagia, mit weltlichem Namen Polina Lissizyna. Ich bin verloren!

Nachdem sie ihre Angst hinausgeschrien hatte, wandte sie sich dem nahenden Poltern der Stiefel zu.

Der Kapitän war durch die Verfolgungsjagd nicht allzu sehr außer Atem geraten, nur sein Gesicht hatte sich noch stärker gerötet.

Polina Andrejewna presste die Hände an die Brust (es sah aus, als flehe sie um Gnade) und sagte eindringlich:

»Bruder Jonas! Was habe ich Ihnen getan? Ich bin Ihre Schwester in Christus! Bringen Sie keine lebende Seele um!«

Sie dachte, er würde nicht antworten.

Doch der Mönch blieb bei der am Boden liegenden Frau stehen, wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab und brummte:

»Ich habe meine Seele zugrunde gerichtet, was soll ich da Mitleid mit einer fremden haben?«

Er sah sich um, nahm einen großen, kantigen Stein vom Wegrand und hob ihn über den Kopf. Ohne die Augen zu schließen, blickte Frau Lissizyna nach oben. Nicht zu ihrem Mörder – zum Himmel. Er war trübe und streng, aber voller Licht.

»He, mein Bester!«, erscholl plötzlich eine klingende, gelassene Stimme.

Polina Andrejewna, die sich schon damit abgefunden hatte, dass ihr rothaariger Kopf nun zertrümmert werden würde, starrte Jonas verdutzt an. Der hielt immer noch den Stein über dem Kopf und wandte sich zum Leuchtturm um. Und richtig, die Stimme kam von dort.

Die zuvor geschlossene Tür zum Turm stand nun offen. Auf der niedrigen Treppe stand ein Herr in einem Morgenrock mit Quasten und gemusterten persischen Hausschuhen. Offenbar kam er gerade aus dem Bett.

Die Lissizyna erkannte den Herrn sofort. Wie sollte es auch anders sein? Als ob man dieses kühne Gesicht, diese blauen Augen und diese schräg in die Stirn fallende goldblonde Haarsträhne vergessen könnte!

Er war es, er, der Katzenretter, der Mann, der die Herzen der Frauen höher schlagen ließ.

Welch ein betörender Anblick!

Die Versuchung der heiligen Pelagia

»Leg den Stein hin, du Sklave Gottes«, sagte der bildschöne Mann, und er musterte interessiert den kräftigen Mönch und die zu seinen Füßen liegende junge Frau. »Und dann komm her, ich ziehe dir die Ohren lang, damit du weißt, wie man mit Damen umgeht.«

Er sah einfach großartig aus, als er diese kühnen Worte sprach: hager, wohlgestaltet, ein spöttisches Lächeln auf den schmalen Lippen. David, der Goliath zum Kampf herausfordert – dieser Vergleich fiel Frau Lissizyna ein, die von den Ereignissen völlig überrumpelt war.

Doch im Unterschied zu dem biblischen Zweikampf befand sich der Stein nicht in der Hand des wunderschönen Helden, sondern in der des Riesen. Mit dumpfem Gebrüll wandte dieser sich um und schleuderte dem so unerwartet aufgetauchten Zeugen das Geschoss entgegen.

Der schwere Stein hätte den Blonden mit Sicherheit umgeworfen, doch der wich geschickt aus, und der Stein prallte gegen den offen stehenden Türflügel, schlug diesen entzwei, fiel dann auf die Vortreppe, sprang alle drei Stufen, eine nach der anderen, hinunter und bohrte sich in den Dreck.

»Na so etwas! Nun stehst du da mit deinen langen Schößen.«

Die spöttische Miene des Ritters wurde ernst, sein Kinn schob sich vor, die Augen zeigten ein stählernes Blitzen. Der wundervolle Beschützer stürzte sich auf den Mönch, nahm eine elegante Boxerhaltung ein und gab eine ganze Salve gezielter, krachender Schläge auf die breite Visage des Kapitäns ab, die aber leider auf Jonas keinerlei Eindruck machten.

Der große, plumpe Kerl wehrte den energischen Gegner ab wie eine lästige Fliege, um ihn dann an den Schultern zu packen, hochzuheben und ihn gut zwei Klafter weit durch die Luft zu werfen. Die Zuschauerin stöhnte nur auf.

Der Blonde sprang sofort wieder auf und riss sich den für diese Gelegenheit denkbar ungeeigneten Morgenrock vom Leib. Er trug kein Hemd darunter, sodass sich Polina Andrejewnas Blick der schlanke, sehnige Bauch und die muskulöse, mit goldenen Haaren bewachsene Brust darbot.›Nun glich der Kämpfer noch mehr einem David.

Der Bewohner des Leuchtturms hatte offenbar eingesehen, dass er den Kampf gegen einen solchen Bären nicht mit bloßen Händen aufnehmen konnte, und blickte sich nach rechts und nach links um, ob sich nicht eine Waffe finden ließe. Mit Erfolg – neben einem Schuppen mit windschiefem, löchrigem Dach lag eine alte Gabeldeichsel im Gras.

David stürzte in zwei Sätzen dahin, packte sie mit beiden Händen und beschrieb damit einen pfeifenden Kreis über dem Kopf. Die Chancen der beiden Widersacher schienen nun gleich zu stehen. Polina Andrejewna fasste neuen Mut, richtete sich halb auf und verbiss sich mit den Zähnen in dem Strick. Sie musste schnellstmöglich ihre Hände befreien und zu Hilfe eilen!