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Korowin schüttelte den Kopf. Mit einem freundlichen Vorwurf, als spreche er zu einem unvernünftigen Kind, sagte er:

»In diesem Zustand? Davon will ich nichts hören. Sie sollten sich einmal ansehen. Und wenn Sie sich etwas gebrochen oder gequetscht haben? Oder wenn Sie, Gott behüte, eine Gehirnerschütterung haben? Nein, meine Liebe, ich habe den Eid des Hippokrates geschworen. Wir fahren jetzt. Wo ist Ihr Kleid?«

Er blickte sich suchend um und warf sogar einen Blick unter die Bettstatt. Die Lissizyna schwieg betreten, der unglückliche Nikolaj Wsewolodowitsch ebenfalls.

»Nun gut, zum Teufel mit dem Kleid. Wir finden schon etwas für Sie.«

Er fasste Polina Andrejewna um die Schulter und führte sie zum Ausgang. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu widersetzen, und außerdem konnte sie wohl kaum in diesem déshabillé in der Stadt auftauchen.

Donat Sawwitsch fing aus irgendeinem Grunde an, sich zu entschuldigen. Er ließ das Pferdchen in einen leichten Trab fallen und sagte zerknirscht:

»Ein schrecklicher Vorfall. Ich weiß nicht, wie ich mich rechtfertigen soll. So etwas ist bei mir noch nie vorgekommen. Sie haben natürlich das Recht, sich bei den Behörden zu beschweren, eine Klage gegen mich einzureichen und so weiter. Für meine Klinik ist das mit Unannehmlichkeiten verbunden, es führt vielleicht sogar zur Schließung, aber – mea culpa, also muss ich auch die Verantwortung tragen.«

»Was haben Sie denn damit zu tun?«, wunderte sich Polina Andrejewna und zog ihre frierenden Füße hoch – die Schuhe waren beim Leuchtturm zurückgeblieben, aber sie hätten ihr auch nichts genützt, feucht und durchnässt, wie sie waren. »Warum müssen Sie die Verantwortung für die Verbrechen dieses Mannes tragen?«

Sie wollte dem Doktor schon die ganze Wahrheit über den schwarzen Mönch eröffnen, kam aber nicht dazu, denn Korowin winkte ärgerlich ab und sprudelte erregt hervor:

»Weil Terpsichorow mein Patient ist und nicht gerichtlich belangt werden kann. Er steht unter meiner Obhut, ich trage die Verantwortung für ihn. Wie konnte ich mich bei der Diagnose nur so täuschen! Das ist vollkommen unverzeihlich! Eine latente Aggressivität nicht erkennen, und was für eine! Mit den Fäusten auf eine Frau losgehen – das ist einfach ein Skandal! In jedem Fall schicke ich ihn zurück nach Petersburg. In meiner Klinik gibt es keinen Platz für Raufbolde.«

»Wer ist Ihr Patient?« Die Lissizyna traute ihren Ohren nicht. »Nikolaj Wsewolodowitsch?«

Der Doktor lächelte bitter.

»Hat er sich Ihnen so vorgestellt, als Nikolaj Wsewolodowitsch? Ja natürlich! Oh, wenn ich herausbekomme, wer ihm diesen Schund zugesteckt hat!«

»Welchen Schund?« Polina Andrejewna verstand überhaupt nichts mehr.

»Sehen Sie, Laert Terpsichorow (das ist natürlich sein Bühnenname) ist einer meiner interessantesten Patienten. Er war Schauspieler, ein Genie, wie man so sagt, von Gottes Gnaden. Wenn er in einem Theaterstück spielte, identifizierte er sich völlig mit seiner Rolle. Publikum und Kritik schwelgten in Begeisterung. Die besten Schauspieler sind bekanntlich diejenigen mit einer schwach ausgeprägten Individualität, deren ›Ich‹ nicht verhindert, dass sie in immer neue Rollen schlüpfen. Bei Terpsichorow nun ist das eigene ›Ich‹ überhaupt nicht vorhanden. Wenn er keine Rolle hat, liegt er von morgens bis abends auf dem Diwan und starrt die Decke an, wie eine Marionette beim Puppenspieler in der Truhe liegt. Doch kaum muss er sich in eine Rolle versetzen, lebt er auf, sammelt neue Kräfte und Energie. Frauen haben sich bis zum Wahnsinn, bis zur Raserei in ihn verliebt. Er war dreimal verheiratet, und jedes Mal dauerte die Ehe nur wenige Wochen, die längste einige Monate. Dann erkannte die jeweilige Ehefrau, dass ihr Auserwählter eine Null ist, ein Nichts, und dass sie sich nicht in Laert Terpsichorow, sondern in einen literarischen Helden verliebt hatte. Aufgrund seiner pathologisch unterentwickelten Persönlichkeit identifizierte sich dieser Schauspieler jedes Mal so sehr mit seiner Rolle, dass er sich auch im Alltag nicht von ihr lösen konnte und sozusagen für den Autor weiterdachte, improvisierte und neue Situationen und Repliken dazuerfand. Und zwar so lange, bis man ihm das nächste Stück zum Einstudieren gab. Seine erste Frau hat also Tschazki geheiratet und fand sich dann als Freundin bei Chlestakow wieder. Die zweite Frau verlor ihr Herz an Cyrano de Bergerac und geriet alsbald an den Geizigen Ritter. Die dritte verliebte sich in den melancholischen Prinzen von Dänemark, und eh sie sich versah, verwandelte der sich in den stutzerhaften Grafen Almaviva. Nach der dritten Scheidung hat Terpsichorow mich aufgesucht. Er liebte seine letzte Frau sehr und war vor Verzweiflung kurz vor dem Selbstmord. Er sagte: ›Ich gebe das Theater auf, aber retten Sie mich, helfen Sie mir, mein Ich zu finden!‹«

»Und, hat es nicht geklappt?«, fragte Polina Andrejewna, die von der merkwürdigen Geschichte gefesselt war.

»Doch, doch. Der echte Terpsichorow ist nur ein Schatten seiner selbst. Von morgens bis abends verharrt er in Passivität und Schwermut und ist tiefunglücklich. Zum Glück fiel mir ein Buch in die Hände, ein Band mit übersetzten Erzählungen, in dem ein ähnlicher Fall beschrieben wird. Dort wird auch ein Rezept vorgeschlagen – natürlich zum Scherz, doch die Idee schien mir produktiv.«

»Und was ist das für eine Idee?«

»Vom Standpunkt des Psychiaters aus eine ganz vernünftige: Nicht jede Abweichung der Psyche muss korrigiert werden, das kann die Individualität zerstören. Man muss aus der Schwäche eine Stärke machen. Schließlich wird jede Vertiefung zu einer Erhöhung, wenn man sie um hundertachtzig Grad dreht. Wenn der Mann ohne Schauspielerei nicht sein kann und nur dann ein tätiges Leben führt, wenn er irgendeine Rolle spielt, muss man ihn eben mit einem Repertoire versorgen. Dazu muss man Rollen auswählen, die die besten, erhabensten Qualitäten der menschlichen Seele zur Geltung kommen lassen, und nicht etwa Chlestakow, den Geizigen Ritter oder, Gott behüte, Richard den Dritten.«

»Dann ist ›Nikolaj Wsewolodowitsch‹ also Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin aus dem Roman ›Die Dämonen‹?«, seufzte Frau Lissizyna. »Aber warum haben Sie eine so gefährliche Rolle für Ihren Patienten ausgesucht?«

»Ich habe die Rolle ja nicht ausgesucht!«, rief der Doktor aufgebracht. »Ich achte sehr genau auf seine Lektüre, ich weiß, welche Rolle ihn fesseln könnte, und darum ist ›Der Idiot‹, ebenfalls ein Roman von Herrn Dostojewski, seit einem Jahr das einzige Buch, das erlesen darf. Von allen Figuren des Romans passt nur Fürst Myschkin zu Terpsichorow. Und die Rolle war so recht nach seinem Geschmack. Er hat sich in den stillen, lauteren Lew Nikolajewitsch Myschkin verwandelt, den besten aller Erdenbürger. Alles ging wunderbar, bis ihm irgendein Flegel ›Die Dämonen‹ zugesteckt hat, was mir entgangen ist. Stawrogin ist natürlich ein viel interessanterer Typ als Fürst Myschkin, also hat Terpsichorow das Repertoire gewechselt. Byronismus, Gottlosigkeit und Poetisierung des Bösen sind im dramatischen Sinne weit reizvoller als christliche Milde, Verständnis und ewiges Verzeihen. Als ich es bemerkte, war es zu spät – Laert war bereits gänzlich verwandelt, und ich konnte wieder von vorn anfangen. Für die Zeit der Krise habe ich ihn möglichst weit weg von den übrigen Patienten untergebracht und eine erfreulichere Lektüre als ›Die Dämonen‹ gesucht. Man muss sagen, das ist ganz und gar keine einfache Aufgabe. Doch ich hätte nicht gedacht, dass Stawrogin so gefährlich sein kann, außerdem habe ich Laerts schöpferische Fantasie unterschätzt. Aber trotzdem – ein Stawrogin, der Frauen schlägt, das ist schon eine sehr kühne Interpretation der Figur. Immerhin ist er ein Aristokrat.«

»Er hat mich nicht geschlagen«, sagte Frau Lissizyna leise, die sich zusammenreimen konnte, woher der arme Verrückte den schlechten Roman bekommen hatte. Vater Mitrofani hatte Aljoscha den Roman als Reiselektüre mitgegeben – aus pädagogischen Erwägungen, und das war nun das Resultat!