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Polina Andrejewna fühlte sich in gewissem Grade mitschuldig (sie war es gewesen, die den Bischof zur Lektüre von Romanen ermuntert hatte) und bat:

»Schicken Sie Nikolaj Wsewolodowitsch nicht fort, ihn trifft keine Schuld. Ich werde mich nicht beschweren.«

»Wirklich?« Korowin strahlte und drohte dem unsichtbaren Terpsichorow mit dem Finger. »Nun, jetzt wirst du den Zucker aus dem ›Blauen Vogel‹ einstudieren!« Doch sogleich ließ er den Kopf wieder hängen. »Ich muss zugeben, dass ich kein guter Seelenheiler bin. Es sind zu wenige, denen ich helfen kann. Der Fall Terpsichorow ist schwer, aber nicht hoffnungslos, doch wie ich Lentotschkin retten soll – das ist mir ein Rätsel.«

Die Lissizyna erschauerte, als sie begriff, dass Aljoschas Verschwinden noch nicht entdeckt war, und sagte gar nichts.

Die zweirädrige Kutsche glitt bereits durch den Kiefernwald, vorbei an den bunten, verschiedenartigen Häuschen der Klinik. Hinter einer Biegung tauchte die Villa des Doktors auf, in deren Einfahrt eine vierspännige, niedrige geschlossene Kutsche stand. Sie war schwarz und hatte ein goldenes Kreuz am Wagenschlag.

»Seine Hochehrwürden geruht mich zu besuchen«, wunderte sich Donat Sawwitsch. »Wieso das? Gewöhnlich lässt er einen rufen und gibt beizeiten Bescheid. Offenbar ist etwas Besonderes vorgefallen. Ich führe Sie in meinen Privatflügel, Polina Andrejewna, und werde anordnen, dass man sich um Sie kümmert. Ich selbst hingegen, verzeihen Sie ergebenst, gehe ins Kabinett zum Herrscher der Insel.«

Doch es kam anders, als Korowin gedacht hatte. Der Archimandrit hatte die heranrollende Kutsche wohl schon durchs Fenster gesehen und kam ihnen in der Vorhalle entgegen. Das heißt, er kam ihnen entgegengestürzt: ganz in Schwarz, aufgebracht und drohend mit dem Stab auf den Boden klopfend. Er streifte die abgerissene Person weiblichen Geschlechts nur mit einem flüchtigen Blick, kräuselte angewidert die Lippen und wandte sich ab, als fürchte er, seine Augen würden durch einen derart unzüchtigen Anblick besudelt werden. Ob er die großzügige Pilgerin erkannte oder nicht, war unklar. Auch wenn er sie erkannt hätte, wäre es nicht schlimm, beruhigte sich Frau Lissizyna, er würde dann annehmen, der wunderlichen Dame sei im Traum wieder das Krokodil erschienen.

»Guten Tag, Vater.« Korowin neigte den Kopf und sah den zornigen Klostervorsteher mit heiterer Verwunderung an. »Womit habe ich die unerwartete Ehre verdient?«

»Brechen Sie den Vertrag?« Witali polterte mit seinem Stab auf den Boden. »Der Vertrag, mein Herr, ist wertvoller als Geld! Was haben Sie mir versprochen? Die Finger von den Brüdern zu lassen! Und nun?«

»Ja, was nun?«, fragte der keineswegs erschrockene Doktor. »Was ist denn Entsetzliches geschehen?«

»Die ›Wassilisk‹ konnte am Morgen nicht auslaufen! Der Kapitän ist nicht da! Nicht in seiner Zelle, nicht am Anleger, nirgends! Die Passagiere sind in Aufruhr, im Laderaum liegt eine Fracht, die keinen Aufschub duldet – Sauerrahm aus dem Kloster, und niemand kann das Schiff lenken!« Seine Hochehrwürden griff nach dem Brustkreuz, offenbar um sich an die christliche Sanftmut zu erinnern. Es half nichts. »Ich habe eine Ermittlung durchgeführt! Jonas wurde gestern Abend mit Ihrer babylonischen Hure gesehen!«

»Wenn Sie über Lidia Jewgenjewna Borejko sprechen«, versetzte Donat Sawwitsch gelassen, »so ist sie keineswegs eine Hure. Ihre Diagnose lautet anders: pathologische Quasi-Nymphomanie mit obsessiver Aufdringlichkeit und defizitärer Libido. Mit anderen Worten, sie gehört zu den bildschönen Koketten, die den Männern den Kopf verdrehen, sich aber auf gar keinen Fall anrühren lassen.«

»Wir hatten eine Abmachung!«, brüllte Witali ohrenbetäubend laut. »Meine Mönche hat sie in Ruhe zu lassen! Sie mag mit den Touristen üben! Hatten wir das so abgemacht oder nicht?«

»Ja«, gab der Doktor zu. »Aber vielleicht hat Ihr Jonas sich ihr gegenüber nicht wie ein Mönch verhalten?«

»Bruder Jonas ist eine einfache, arglose Seele. Ich selbst nehme ihm die Beichte ab, kenne alle seine harmlosen Sünden zur Genüge.«

Korowin runzelte die Stirn.

»Eine einfache Seele, sagen Sie? Ich habe in Lidia Jewgenjewnas Schlafzimmer ein Päckchen Kokain gefunden und zwei weitere leere Päckchen mit Spuren des Pulvers. Wissen Sie, wer ihr dieses Zeug vom Festland liefert? Ihr Seefahrer.«

»Das ist eine Lüge!!! Wer Ihnen das gesagt hat, ist ein Verleumder und ein Lästermaul!«

»Lidia Jewgenjewna selbst hat es zugegeben.« Donat Sawwitsch machte mit der Hand eine Geste zum See hin. »Und Ihr verlorenes Schaf, die einfache Seele, liegt zurzeit sternhagelvoll beim alten Leuchtturm. Sie können hinfahren und sich selbst überzeugen. Frau Borejko trifft also keine Schuld, dass das Schiff nicht auslaufen kann.«

Die Augen des Archimandriten sprühten Feuer, aber er stritt nicht weiter. Wie eine schwarze Windhose sprang er nach draußen und knallte den Wagenschlag zu. Er schrie:

»Fahr zu! Na, mach schon!«

Mit einem Ruck stob die Kutsche davon, sodass der Schotter unter den Rädern nach allen Seiten spritzte.

»Also ist die Borejko ebenfalls Ihre Patientin?«, fragte Polina Andrejewna fassungslos.

Der Doktor runzelte die Stirn und lauschte auf das ungestüme Hufgetrappel, das in der Ferne verklang.

»Wenn er jetzt bloß nicht behauptet, Terpsichorow würde den Kapitän abfüllen . . . Verzeihung, was sagten Sie? Ach, die Borejko. Nun, selbstverständlich ist sie meine Patientin. Sieht man ihr das nicht an? Eine recht verbreitete Ausformung der weiblichen Persönlichkeit, gewöhnlich femme fatale genannt, die jedoch bei Lidia Jewgenjewna bis ins äußerste Extrem gesteigert ist. Sie muss sich unentwegt als Objekt der Begierde einer möglichst großen Anzahl von Männern fühlen. Gerade das Verlangen der anderen verschafft ihr emotionale Befriedigung. Früher lebte sie in der Hauptstadt, doch nach einigen tragischen Geschichten, die mit Duell und Selbstmord endeten, vertrauten ihre Eltern sie meiner Obhut an. Das Leben auf der Insel hat einen günstigen Einfluss auf Lidia Jewgenjewna. Erheblich weniger Männer, die sie reizen könnten, fast keine Versuchungen, und vor allem – überhaupt keine Rivalinnen. Sie empfindet sich als die Schönste dieser abgeschlossenen kleinen Welt und ist daher ganz beruhigt. Hin und wieder testet sie ihre Reize an einem der Touristen, um sich von ihrer Unwiderstehlichkeit zu überzeugen, und das reicht ihr. In diesen kleinen Streichen sehe ich nichts Gefährliches. Die Borejko hat versprochen, ihre Finger von den Mönchen zu lassen, und wenn sie sich nicht daran hält, sind strenge Sanktionen vorgesehen. Offenbar ist dieser Jonas tatsächlich selbst schuld.«

»Kleine Streiche?«, bemerkte Frau Lissizyna mit einem traurigen Lächeln, und sie erzählte dem Doktor von der »Kaiserin von Kanaan«.

Korowin hörte zu und konnte sich nur noch an den Kopf fassen.

»Das ist entsetzlich, einfach entsetzlich!«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Welch ein ungeheurer Rückfall! Und die Verantwortung liegt wiederum ganz bei mir. Mein Experiment mit dem Abendessen zu dritt war ein kompletter Fehlschlag. Sie haben mir damals keine Gelegenheit gegeben, Ihnen zu erklären . . . Sehen Sie, Polina Andrejewna, es gibt verschiedene Modelle für die Beziehungen eines Psychiaters zu seinen Patientinnen. Eines davon, ein sehr effektives, besteht darin, die Verliebtheit einer Patientin auszunützen. Meine Macht über die Borejko, mein Mittel zur Einflussnahme auf sie besteht darin, ihren Ehrgeiz anzustacheln. Ich bin der einzige Mann, den all ihre Ränke und Reize als femme fatale völlig ungerührt lassen. Wenn ich nicht so unzugänglich wäre, wäre Lidia Jewgenjewna längst mit einem ihrer Verehrer durchgebrannt, doch solange es ihr nicht gelingt, mich zu erobern, wird sie nicht davonlaufen, das lässt ihr Ehrgeiz nicht zu. Von Zeit zu Zeit muss man Salz in diese Wunde streuen, was ich mit Ihrer Hilfe versucht habe zu tun. Der Effekt hat leider meine Erwartungen übertroffen. Anstatt nur ein wenig eifersüchtig zu werden, weil ich einer reizenden Besucherin Aufmerksamkeiten erweise, hat die Borejko in Ihrem Besuch ein Komplott vermutet, woraufhin sie in einen paranoid-hysterischen Zustand geraten ist. Letztendlich haben Sie dafür beinahe mit dem Leben bezahlt. Ach, das werde ich mir nie verzeihen!«