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»Nein«, antwortete Matwej Benzionowitsch. »Ich weiß jetzt überhaupt nichts.«

»Liebe bedeutet, immer zusammen zu sein. Besonders, wenn es dem, den man liebt, schlecht geht.«

»Sie dürfen hier nicht bleiben! Wieso begreifen Sie das denn nicht? Sind sind doch ein Bischof!«

Aha! Mitrofani ballte im Halbdunkel die Fäuste. Es ist ihm wieder eingefallen! Na also!

»Das ist mir völlig einerlei, Matjuscha. Ich bleibe bei dir. Und du wirst jetzt keine Angst mehr haben, denn zu zweit hat man keine Angst. Dann sind wir eben beide verrückt, du und ich auch. Doktor Korowin wird mich aufnehmen, das ist ein interessanter Fall für ihn: Der Bischof des Gouvernements hat den Verstand verloren.«

»Nein!«, widersprach Berditschewski hartnäckig. »Man wird nicht zu zweit verrückt!«

Auch das schien dem Bischof ein gutes Zeichen zu sein – bis jetzt war Matwej Benzionowitsch immer mit allem einverstanden gewesen.

Mitrofani setzte sich im Bett auf und ließ die Beine baumeln. Er blickte dem ehemaligen Ermittler geradewegs in die Augen und sagte:

»Ich glaube auch gar nicht, dass du den Verstand verloren hast, Matwej. Du hast vielleicht einen kleinen Vogel. Das kommt vor bei sehr klugen Menschen. Die wollen oft die ganze Welt in ihren Kopf stopfen. Aber sie passt da nicht hinein, Gottes ganze Welt. Sie hat viele Ecken, darunter auch sehr scharfe, und wenn die durch den Schädel aufs Gehirn drücken, verletzen sie es.«

Matwej Benzionowitsch fasste sich an die Schläfen und klagte:

»Ja, es drückt. Wissen Sie, wie weh das manchmal tut?«

»Das kann ich mir vorstellen. Ihr klugen Leute, wenn ihr etwas nicht ins Hirn stopfen könnt, dann weicht ihr zurück, verliert den Verstand. Es ist euch nicht gegeben, auf etwas anderes zurückzugreifen, denn der Mensch kann außer seinem Verstand nur noch eine andere Stütze haben – den Glauben. Du aber, Matjuscha, glaubst nicht richtig, so viel du auch sagst ›Ich glaube, oh Herr. Der Glaube ist eine Gabe Gottes, die nicht jedem zuteil wird und für sehr kluge Menschen zehnmal schwerer zu erlangen ist. So kommt es, dass du den Verstand verloren und den Glauben nicht gefunden hast, darin liegt deine ganze Verrücktheit. Nun, den Glauben kann ich dir nicht geben, das liegt nicht in meiner Macht. Aber ich kann versuchen, dir den Verstand zurückzugeben. Damit Gottes Welt wieder Platz in deinem Kopf findet.«

Berditschewski hörte zwar argwöhnisch, aber sehr aufmerksam zu.

»Lesen kannst du doch wohl noch? Na also, hier, lies, was eine andere kluge Person schreibt, die noch klüger ist als du. Lies das über den Sarg, über die Kugel und über Wassilisk auf Stelzen.«

Der Bischof zog Polina Andrejewnas Brief aus dem Ärmel und reichte ihn seinem Nachbarn.

Der nahm ihn und hielt ihn unter die Lampe. Zu Anfang las er langsam, leise für sich, wobei er eifrig die Lippen bewegte. Auf der dritten Seite fuhr er zusammen, er hörte auf, die Lippen zu bewegen und fing heftig an zu blinzeln. Er drehte das Blatt um und begann auf der nächsten Seite, sich nervös die Haare zu raufen.

Mitrofani beobachtete ihn hoffnungsvoll und bewegte ebenfalls die Lippen – er betete.

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, rieb Matwej Benzionowitsch sich verbissen die Augen. Raschelnd drehte er die Seiten wieder um und fing noch einmal von vorne an zu lesen. Die Finger fuhren an die Spitze seiner langen Nase – eine Angewohnheit aus dem früheren Leben des stellvertretenden Staatsanwalts, die ihn in Momenten der Anspannung befallen hatte.

Unvermittelt zuckte er zusammen, er legte den Brief weg und drehte sich mit dem ganzen Körper zum Bischof um.

»Was soll das – Akaki? Mein Sohn heißt Akaki? Was ist denn das für ein Name? War Mascha damit etwa einverstanden!?«

Der Bischof machte das Kreuzzeichen, flüsterte ein Dankgebet und presste die Lippen voller Inbrunst an die wertvolle Panhagia.

Er sagte leichthin und munter:

»Das habe ich erfunden, Matwejuschka. Ich wollte dich wachrütteln. Mascha hat noch nicht geboren, das Kind kommt erst noch.«

Matwej Benzionowitsch runzelte die Stirn:

»Und das mit dem Staatsrat stimmt auch nicht?«

Auf das von Gekeuche und Schluchzern unterbrochene schallende Gelächter, das aus dem Schlafzimmer drang, wurde die Tür ohne Anklopfen geöffnet. Aber nicht Frau Lissizyna, sondern Doktor Korowin und sein Assistent spähten herein, beide im weißen Kittel – sie kamen wohl von der Visite. Voller Schrecken starrten sie auf den hochrot angelaufenen Bischof, der sich die Tränen trocknete, und auf den zerzausten Patienten.

»Ich hätte nicht gedacht, Herr Kollege, dass die entropische Schizophrenie ansteckend ist«, murmelte Donat Sawwitsch.

Der Assistent rief aus:

»Eine bahnbrechende Entdeckung, Herr Kollege!«

Nachdem Mitrofanis Lachanfall vorüber war und er sich die Tränen abgewischt hatte, sagte er dem verstörten stellvertretenden Staatsanwalt:

»Das mit dem Rang habe ich mir nicht ausgedacht, das wäre eine unverzeihliche Sünde. Ich gratuliere also, Eure Wohlgeboren.«

Donat Sawwitsch betrachtete den Gesichtsausdruck seines Patienten und stürzte auf ihn zu.

»Gestatten Sie.« Er ging vor dem Bett in die Hocke, fühlte Matwej Benzionowitsch mit der einen Hand den Puls und zog ihm mit der anderen die Lider hoch. »Es ist ein Wunder! Was haben Sie mit ihm gemacht, Eminenz? He, Herr Berditschewski! Zu mir! Sehen Sie mich an!«

»Was schreien Sie denn so, Doktor?« Der frisch gebackene Staatsrat verzog das Gesicht und rückte ein Stück beiseite. »Ich bin schließlich nicht taub. Was ich Ihnen schon lange sagen wollte: Sie täuschen sich, wenn Sie denken, dass die Kranken Ihre beiseite gesprochenen Kommentare den anderen Ärzten, den Schwestern oder den Besuchern gegenüber nicht hören. Sie sind hier immerhin nicht im Theater.«

Korowin fiel die Kinnlade herunter, was in Kombination mit der Maske spöttischer Selbstsicherheit, die er so fest verinnerlicht hatte, einigermaßen merkwürdig aussah.

»Donat Sawwitsch, bekommt man bei Ihnen abends etwas zu essen?«, erkundigte sich der Bischof. »Ich habe seit heute Morgen praktisch nichts gegessen. Wie ist es mit dir, Matwej, hast du keinen Hunger?«

Berditschewski entgegnete noch nicht sehr überzeugt, aber nicht mehr so leblos wie früher:

»Etwas zu essen wäre vielleicht nicht schlecht. Und wo ist Frau Lissizyna? Ich kann mich nicht besonders gut erinnern, was hier vorgefallen ist, aber sie hat mich besucht, das habe ich doch wohl nicht geträumt?«

»Das Abendessen gibt es später! Nachher!«, rief Korowin in höchster Aufregung. »Sie müssen mir auf der Stelle erzählen, an welche Ereignisse der vergangenen zwei Wochen Sie sich erinnern! In allen Einzelheiten! Sie, Herr Kollege, stenografieren jedes Wort mit! Das ist sehr wichtig für die Wissenschaft! Und Sie, Eminenz, verraten mir unverzüglich Ihre Heilmethode. Sie haben gewiss einen Schock angewandt, nicht wahr? Und welchen genau?«

»Aber nein.« Mitrofani schnitt ihm das Wort ab. »Zuerst das Abendessen. Und schicken Sie nach Pela. . . nach Polina Andrejewna. Wo ist sie überhaupt?«

»Frau Lissizyna ist weggefahren«, erwiderte Donat Sawwitsch zerstreut, und er schüttelte wieder den Kopf. »Nein, so etwas habe ich wirklich noch nie gehört oder gelesen! Nicht einmal im ›Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie‹!«

»Wohin denn? Und wann war das?«

»Es war noch hell. Sie bat, ins Hotel gebracht zu werden. Sie wollte Ihnen etwas sagen, aber Sie haben sie nicht hereingelassen. Ach ja, vorher hat sie bei mir im Kabinett noch etwas aufgeschrieben. Sie bat darum, Ihnen einen Umschlag und irgendeine Tasche zu übergeben. Den Umschlag habe ich hier, ich habe ihn in die Kitteltasche gesteckt. Aber in welche? Und die Tasche steht hinter der Tür im Vorzimmer.«

Der Assistent brachte bereits ungefragt die Tasche – eine große, aber offenbar nicht besonders schwere Reisetasche aus Wachstuch.