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Polina Andrejewna blieb stehen und schnupperte. Sie wartete eine Weile, ob ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden. Doch das geschah nicht – offenbar drang überhaupt kein Licht, und sei es noch so verschwindend wenig, hier herein.

Sie holte die Streichhölzer aus der Reisetasche, riss eines an und entzündete eine Kerze.

Ein ziemlich breiter Stollen, dessen Gewölbe sich in der Dunkelheit verlor, führte in die Tiefe des Hügels. Die Wände waren uneben, weißlich, entweder mit Kalksteinblöcken oder mit Muschelkalkstein belegt. Frau Lissizyna hielt die Kerze ein Stück höher und stieß einen Schrei aus.

Dazu hatte sie auch allen Grund. Es waren keineswegs Kalksteinblöcke, sondern lauter Tote, einer über den anderen gelegt und zu einem übermannshohen Stapel aufgeschichtet. Keine Skelette, sondern aus getrocknete Gebeine, mit Haut überzogene Mumien, mit eingefallenen Augenhöhlen, eingesunkenen Mündern und fromm über der Brust gefalteten Händen. Als sie die knochigen Finger des obersten Leichnams mit den langen gebogenen Nägeln sah, stöhnte Polina Andrejewna leise auf. Es war entsetzlich!

Sie hätte den schaurigen Ort am liebsten schnellstmöglich verlassen, aber das ging nicht. Die Reihen mit Toten zogen sich an den Wänden entlang, es waren Hunderte und Aberhunderte. Diejenigen, die sich nah am Eingang befanden, waren fast nackt, spärlich bedeckt von vermoderten Kleidungsfetzen – offenbar waren sie am längsten tot; dann wurden die Wände allmählich dunkler, weil die Gewänder der Mönche besser erhalten waren. Aber die Kapuzen, die die Gesichter der heiligen Mönche zu Lebzeiten bedeckt hatten, waren sämtlich aufgeschnitten, und Frau Lissizyna registrierte verblüfft die erstaunliche Ähnlichkeit dieser Totenköpfe: Mit ihren glatten Schädeln, ohne Augenbrauen, ohne Schnurrbärte oder Bärte, sogar ohne Wimpern, glichen die Gerechten einander wie Brüder. Bei dieser Entdeckung verflog mit einem Mal Polina Andrejewnas Angst, die sie beinahe dazu bewogen hätte davonzulaufen, so schnell wie möglich davonzulaufen aus diesem Totenreich.

Es war kein Totenreich, sagte sie sich, sondern die Pforte zum Paradies. Es war gleichsam die Garderobe, in der die reinen Seelen ihr irdisches Gewand ablegten, bevor sie ins Himmelreich eintraten. Hier war es, dieses Gewand, das sie nicht mehr benötigten. Hier lag es und verfiel.

Allerdings war der Verfall nicht besonders stark, verbesserte sich die Ermittlerin, die wieder Mut geschöpft hatte. Diese Körper gehörten schließlich nicht einfachen Menschen, sondern heiligen Mönchen. Daher sind auch ihre Gebeine unvergänglich. Eigentlich müsste es hier nach Aas und Verwesung stinken, aber wenn hier etwas verwest, dann höchstens die Zeit selbst. Das ist der Geruch, den man hier wahrnimmt: die Verwesung der Zeit.

Furchtlos ging sie nun zwischen den aus Leichenstapeln bestehenden Wänden weiter. Dann hörten die Gebeine auf. Polina Andrejewna erblickte linker Hand die nackte Steinwand und rechter Hand einen niedrigen Stapel mit nur drei Leichen.

Sie beugte sich über den obersten Leichnam und erkannte, dass dieser Mensch erst vor kurzem gestorben war. Durch die Falten der aufgeschnittenen Kapuze blitzte der kahle Scheitel hervor, das nackte, zerfurchte Gesicht schien nicht tot, sondern schlafend.

Der alte Mönch Feognost. Er war vor einer Woche verstorben, roch aber nicht nach Verwesung. Oder war die Zusammensetzung der Luft hier in der Höhle eine andere? Diesen lästerlichen Gedanken, den ihr gewiss der ewige Zweifler und Feind der Menschen eingeflüstert hatte, vertrieb Polina Andrejewna entschieden. Er war ein heiliger Mönch, darum verweste er nicht.

Der Stollen führte weiter in die undurchdringliche Finsternis und verlief leicht ansteigend. Von dort oben, aus dem Inneren des Hügels, drang unvermittelt ein kaum vernehmbarer Laut, beunruhigend und schrecklich unangenehm, als würde in der Ferne jemand mit einer Eisenkralle gleichmäßig über eine Glasscheibe schleifen.

Frau Lissizyna zuckte zusammen. Sie ging einige Schritte weiter – der Laut verschwand. Hatte man sie gehört?

Nein, nach einer Minute nahm die Kralle ihre Arbeit wieder auf. Ihr Herz klopfte heftig: Fledermäuse! O Herr, schütze und verteidige mich vor törichten Weiberängsten. Denk doch nur – Fledermäuse. Sie sind nicht gefährlich. Und es stimmt auch nicht, dass sie Blut saugen, das sind Kinderfantasien.

Sie blieb unentschlossen stehen, starrte in die unheimliche Finsternis und machte plötzlich ein paar Schritte voran: Der Stollen führte noch weiter, aber in den Wänden traten die Umrisse von drei Türen hervor, zwei auf der rechten, eine auf der linken Seite. Unter der Tür zur Linken schimmerte ein feiner Lichtstreifen hervor.

Die Zellen der Eremiten!

Die weibliche Ängstlichkeit vor den fliegenden Geschöpfen war auf der Stelle vergessen. Sie konnte sich jetzt nicht um solche Dummheiten kümmern, wenn die Hauptsache, das Wichtigste, um dessentwillen sie sich auf all diese Schrecken eingelassen hatte, so nah war!

Die Lissizyna schlich zu der Tür, unter der das Licht hervorsickerte. Diese Tür hatte, wie auch die Außentür, keinen Riegel, aber sie war tadellos geölt. Als Polina Andrejewna sachte an der Tür zog, quietschte und knarrte sie nicht.

Sie musste die Kerze ausblasen.

Sie schmiegte sich dicht an den schmalen Spalt und erblickte einen groben Tisch, von einer Öllampe beleuchtet, und einen Mann, der über ein Buch gebeugt war (man konnte hören, wie eine Seite beim Umblättern raschelte). Der Mann saß mit dem Rücken zu ihr, sein Kopf war ideal rund und glänzend, wie der eines Bauern beim Schachspiel.

Um die Zelle besser überblicken zu können, zog die Lissizyna die Tür ein wenig weiter auf – ein winziges Stück nur, doch jetzt fiel es der hinterlistigen Tür ein zu quietschen.

Der Stuhl knarrte. Der Mann am Tisch wandte sich jäh um. Die Lampe beleuchtete ihn von hinten, weshalb sein Gesicht nicht zu erkennen war, doch vorn an der Kutte sah man die weiße Doppelkante, das Zeichen des Abts. Es war der Mönch Israil!

Polina Andrejewna schlug in Panik die Tür zu, was dumm war. Nun stand sie in der undurchdringlichen Finsternis, und vor lauter Schreck hatte sie sogar vergessen, in welcher Richtung sich der Ausgang befand. Und wie sollte sie laufen, wenn es stockfinster war?

So stand sie erstarrt im völligen Dunkel, aus dem das quälende, kreischende Geräusch herankroch: Krschik, krschik, krschik, krschik. Gleich würde ein Fledermausflügel ihre Wange streifen!

Doch sie stand nur kurze Zeit so da, insgesamt wenige Sekunden.

Die Tür öffnete sich, und der Stollen wurde hell.

Auf der Schwelle stand der Abt mit der Lampe in der Hand. Sein Schädel war ebenso nackt wie der des toten Feognost, und auch er hatte weder Bart noch Schnurrbart – wenigstens hatte er noch Brauen und Wimpern, sonst wäre er noch entsetzlicher anzusehen gewesen. Auf dem entblößten Gesicht hoben sich die große, stark ausgeprägte Nase und der Mund mit den runden, weichen Lippen ab. Den stechenden Blick der schwarzen Augen erkannte Polina Andrejewna wieder, auch wenn sie ihn zuvor nur durch die Schlitze in der Kapuze gesehen hatte.

Der Mönch schüttelte den kahlen Kopf und sagte mit seiner wohl bekannten Stimme, die niedrig und ein wenig heiser war:

»Bist du doch gekommen. Hast du es herausgefunden. Sieh mal an, du bist mutig.«

Er war offenbar nicht besonders erstaunt, dass da um Mitternacht eine ungebetene Besucherin in der Einsiedelei auftauchte.

Doch Polina Andrejewna war nicht darüber verblüfft.

»Heiliger Vater, Sie sprechen?«, stammelte sie.

»Mit ihnen nicht.« Israil wies mit dem Kopf auf die beiden gegenüberliegenden Türen. »Mit mir selbst, wenn ich allein bin, ja. Komm herein. Nachts darf man sich nicht im Zugang aufhalten.«