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»Was heißt das? Im Zugang? Im Zugang wozu?« Frau Lissizyna blickte in die Tiefe des Stollens. »Und warum nicht?«

Auf die erste Frage gab Israil keine Antwort. Auf die zweite sagte er:

»Die Regeln verbieten es. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang hat man in den Zellen zu sein, sich der Lektüre, dem Gebet und dem Schlaf hinzugeben. Komm herein.«

Er trat zur Seite, und sie ging in die Zelle – eine enge, in den Fels gehauene Kammer, deren ganze Einrichtung aus einem Tisch, einem Stuhl und einer in der Ecke liegenden Matratze bestand. An der Wand hing eine dunkle Ikone mit einem flackernden Lämpchen davor, in der Ecke prasselte ein kleines Öfchen, dessen Rauchabzug direkt in das niedrige Deckengewölbe ging. Daneben war ein schwarzer Spalt zu erkennen, vermutlich ein Luftschacht.

So also sieht ein bußfertiges Leben aus, dachte die Lissizyna mitleidig, als sie die ärmliche Behausung betrachtete. Hier wird für das ganze Menschengeschlecht gebetet.

Der Eremit bedachte die nächtliche Besucherin mit einem eigenartigen Blick, als warte er auf etwas oder als wolle er sich über etwas Gewissheit verschaffen. Dieser Blick war so angespannt, dass Polina Andrejewna erschauerte.

»Du bist hübsch . . .«, sagte der Mönch kaum vernehmlich. »Du bist schön, ja, besser noch – du bist voller Leben. Nicht schlecht, gar nicht schlecht.« Er schlug breit das Kreuz und verkündete sich selbst mit ganz anderer, freudiger Stimme: »Gerettet! Erlöst! Der Herr hat mich befreit!«

Seine Augen waren nun nicht mehr wachsam und forschend, sondern gleichsam lichterfüllt und strahlend.

»Setz dich auf den Stuhl«, sagte er freundlich. »Lass dich einmal richtig ansehen.«

Sie setzte sich auf die Stuhlkante und blickte den merkwürdigen Eremiten vorsichtig an.

»Sie scheinen ja auf mich gewartet zu haben, Vater.«

»Stimmt«, bestätigte der Abt, und er stellte die Lampe auf den Tisch. »Ich habe gehofft, dass du kommst. Ich habe zu Gott gebetet.«

»Aber . . . Aber wie haben Sie es erraten?«

»Dass du kein Mönch bist, sondern eine Frau?« Israil streifte ihr behutsam die Kapuze vom Kopf, zog seine Hand aber sofort zurück. »Ich habe einen Instinkt für das weibliche Geschlecht, man kann mich nicht täuschen. Ich habe euch immer, mein ganzes Leben lang, am Geruch erkannt, an der Haut und der Körperbehaarung. Meine Haare sind inzwischen zwar fast alle ausgefallen«, lächelte der Mönch, »aber trotzdem habe ich sogleich begriffen, wer du bist. Und dass du mutig bist. Du hast keine Angst gehabt, dich als Klosterbruder zu verkleiden und zur Insel zu kommen. Man sieht auch, dass du klug bist, du hast einen aufgeweckten, wissbegierigen Blick. Und als du das zweite Mal kamst, wurde mir klar: Du hattest den besonderen Sinn in meinen Worten erfasst. Nicht so wie die Dummköpfe in Ararat. Und die anderen Male habe ich nur noch für dich gesprochen, nur auf dich gebaut. Dass du es erraten würdest.«

»Was? Die Sache mit Feognosts Tod?«

»Ja.«

»Was ist denn mit ihm passiert?«

Israil wandte erstmals seinen Blick von ihrem Gesicht ab und legte seine Stirn in Falten.

»Er wurde umgebracht. Anfangs dachte ich, er sei eines natürlichen Todes gestorben, seine Zeit sei gekommen . . . Er hatte bis zum Mittag seine Zelle nicht verlassen. Ich beschloss, nach ihm zu sehen. Er lag still und leblos auf seinem Kiefernreisig (Feognost hatte keine Matratze haben wollen). Er war schwach gewesen, hatte sich nicht wohl gefühlt, daher war ich überhaupt nicht verwundert. Ich wollte ihm den geöffneten Mund schließen, und plötzlich sah ich Fäden zwischen seinen Zähnen. Rote Wollfäden. Feognost hatte ein rotes Wolltuch, das er sich immer um den Hals wickelte. Dieses Tuch lag etwas weiter weg auf dem Tisch, ordentlich zusammengefaltet. Das ist ja eigenartig, dachte ich. Ich faltete das Tuch auseinander und betrachtete es genauer. An einer Stelle war das Gewebe aufgerissen, Fäden hingen heraus . . .«

»Jemand war nachts hereingekommen«, unterbrach Frau Lissizyna flink, »hatte Feognost sein eigenes Tuch auf das Gesicht gepresst und ihn erstickt. Anders ist es nicht zu erklären. Der Mönch wollte nach Luft schnappen und blieb mit den Zähnen in der Wolle hängen, daher auch die Fäden zwischen den Zähnen. Danach hat der Mörder das Tuch zusammengefaltet und auf den Tisch gelegt.«

Der Abt schüttelte beifällig den Kopf:

»Ich habe mich nicht in dir getäuscht, du bist klug. Du hast sofort alles durchschaut. Ich habe dazu viel länger gebraucht als du. Aber schließlich begriff ich, und mir wurde bang ums Herz. Wer hatte diese Freveltat begehen können? Ich war es nicht. Wer dann? Doch nicht Vater David? Vielleicht war er von einem Teufel besessen, der ihn zu dieser Übeltat verleitet hatte? Aber David ist noch schwächer als Feognost, er kann sich wegen seines Herzleidens fast gar nicht mehr von seinem Lager erheben. Er konnte es nicht gewesen sein! Also muss es ein Fremder gewesen sein. Jemand anderes. So sieht es doch aus?«

»Ja«, nickte Polina Andrejewna, die es nicht eilig hatte, dem Mönch ihre Vermutungen mitzuteilen – ihr schien, der heilige Eremit habe noch nicht alles erzählt.

»Vor etwa drei Monaten war jemand hier. Wie du, nachts. Er kam zu mir in die Zelle«, sprach Israil und bestätigte damit ihre Annahme.

»Klein, zerzaust, am ganzen Körper zuckend?«, fragte sie.

Der Mönch kniff die Augen zusammen.

»Ich sehe, du kennst ihn. Ja, er war klein. Er hat ungereimtes Zeug geredet und die ganze Zeit gesabbert. Er sah aus wie ein Narr in Christo. Aber er hat ihn nicht umgebracht.«

Bei diesen Worten holte Frau Lissizyna ihre Brille aus dem Etui, setzte sie auf die Nase und blickte den Abt sehr aufmerksam an.

»Sie sagen das so überzeugt. Warum?«

»Er war nicht so einer. Ich habe eine gute Menschenkenntnis. Und ich habe seine Augen gesehen. Mit solchen Augen bringt man niemanden um, noch dazu heimlich im Schlaf. Ich habe nicht verstanden, was er mir da erzählt hat. Von irgendwelchen Strahlen. Er wollte meine ganze Glatze genau untersuchen. Ich habe ihn davongejagt. Doch ich habe mich nicht bei den Araratern beklagt. Es wäre schwer gewesen, ihnen das zu erklären, mit einem Wort pro Tag, und außerdem hat dieser Narr in Christo keinen Schaden angerichtet . . . Nein, meine Tochter. Feognost hat jemand anders erstickt. Und mich dünkt, ich weiß auch, wer.«

»Cucullus non facit monachum?« Polina Andrejewna nickte verständnisvoll.

»Ja. Das habe ich nur zu dir gesagt, damit der Fährmann es nicht verstand.«

»Aber woher wussten Sie, dass ich Latein verstehe?«

Der Mönch lächelte mit seinen vollen Lippen, die so wenig zu seinem asketischen, hageren Gesicht passten.

»Meinst du, ich kann eine gebildete Frau nicht von einer Köchin unterscheiden? Auf deiner Nasenwurzel ist der Abdruck eines Brillenbügels – man sieht ihn kaum, aber ich habe ein gutes Auge für Kleinigkeiten. Die feinen Falten hier«, er deutete mit dem Finger auf ihre Augenwinkel, »kommen vom übermäßigen Lesen. Was denkst du nur, meine Liebe, über Frauen weiß ich alles. Ein Blick genügt, und ich kann jeder Frau ihr Leben erzählen.«

Frau Lissizyna ertrug so anmaßendes Verhalten nicht, auch wenn es von einem heiligen Mönch kam.

»So, so, jeder Frau also. Was sagen Sie denn über mein Leben?«

Israil neigte den Kopf zur Seite, als wolle er überprüfen, was er ohnehin schon wusste. Dann fing er gelassen an:

»Du bist etwa dreißig Jahre alt. Nein, eher einunddreißig. Du bist kein Fräulein, aber auch keine verheiratete Frau. Ich nehme an, Witwe. Einen Geliebten hast du nicht, und du willst auch keinen haben, weil. . .«, er griff nach der Hand seiner bestürzten Zuhörerin und musterte ihre Fingenägel und die Handfläche, »weil du Nonne oder Klosterschwester bist. Du bist auf dem Land aufgewachsen, auf einem mittelrussischen Landgut, hast dann aber in den Hautpstädten gelebt und in der guten Gesellschaft verkehrt. Dein größter Wunsch ist es, ein geistliches Leben zu führen, doch das fällt dir schwer, weil du jung und voller Tatendrang bist. Und vor allem – du bist voller Liebe, voller unverbrauchter Liebe, die aus dir hervorbricht.« Der Mönch seufzte. »Frauen wie dich habe ich am meisten geschätzt. Es gibt nichts Wertvolleres auf der Welt. Vor einiger Zeit, vor etwa fünf oder sechs Jahren, hast du ein großes Unglück erlebt, einen gewaltigen Schmerz, nach dem du der Welt entsagen wolltest. Sieh mir in die Augen. Ja, so ist es . . . Ich sehe es, ich sehe, was für ein Schmerz das war. Soll ich es sagen?«