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Zur Oppositionspartei gehörten vorwiegend aufmüpfige junge Leute wie Lehrer, Ingenieure und Angestellte von Post und Telegraph; die politische Färbung der Letzteren erklärte sich aus ihrer Zugehörigkeit zu dem Postamt, dessen Leiter seiner besseren Hälfte Olimpiada in völliger Sklaverei verfallen war. Frau Schestago galt in der Stadt als Schönheit, doch ganz anderer Art als die Gouverneursgattin: Sie war nicht stattlich und nicht gutherzig, sondern hager und scharfzüngig, anders ausgedrückt, graziös und intellektuell, wie sie selbst diese Vorzüge definierte. Sie entstammte einem millionenschweren Kaufmannsgeschlecht und hatte ihrem Gatten als Mitgift dreihunderttausend zugebracht, was sie ihm bei der kleinsten Verfinsterung des familiären Himmels, der größtenteils wolkenlos war, unter die Nase rieb. In ihrem reichen, gastlichen Haus wurden solche für Sawolshsk exotischen Bräuche gepflegt wie Gottlosigkeit, Lektüre verbotener Zeitungen und freie Diskussionen über den Parlamentarismus. Frau Schestago empfing donnerstags, jeder konnte kommen, und es kamen sehr viele, denn ihre Tafel war üppig gedeckt und die Unterhaltung nach provinziellen Maßstäben zuweilen interessant.

Da Bubenzows erste Visiten gerade auf einen Donnerstag fielen, präsentierte er sich dem progressiven Lager unbesorgt ob der fehlenden Einladung, was auf gründliche Kenntnis der Sitten und der Kräfteverteilung im Gouvernement hindeutete.

Sein Besuch bei der Postmeistersgattin machte unter den Liberalen regelrecht Furore, denn sie waren schon zu dem Schluss gelangt, dass der Agent der Reaktion ihretwegen ausgesandt worden sei, um in der Sawolshsker Gesellschaft die Freidenkerei und den Geist des Aufruhrs auszurotten. Das war einerseits Besorgnis erregend, andererseits auch angenehm (seht an, der Oberprokuror persönlich ist beunruhigt über die hiesigen Karbonari), doch wohl hauptsächlich Besorgnis erregend.

Aber der »Agent der Reaktion« war gar nicht so Furcht einflößend. Er gab sich aufgeklärt und sprach ganz frei über die neuere Literatur – über den Grafen Tolstoi und über die französischen Naturalisten, die man in der Stadt nur vom Hörensagen kannte. Einen vortrefflichen Eindruck machte auch die rasiermesserscharfe Zunge des Gastes. Als der Inspektor der Volksschulen Ilja Nikolajewitsch Fedjakin, der bei den Progressiven als unübertroffener Spötter galt, dem so überaus selbstsicheren Schwätzer einen Dämpfer verpassen wollte, erwies sich, dass der einheimische Lästerer dem Petersburger Abgesandten nicht im Geringsten gewachsen war.

»Es ist nett, solch kühne Urteile aus dem Mund eines Dieners der Gottesfurcht zu hören«, sagte Fedjakin mit ironisch eingekniffenen Augen und strich seinen Spitzbart, was bei ihm auf ernstliche Gereiztheit deutete. »Sie plaudern mit dem Oberprokuror wohl oft über die physiologische Liebe bei Maupassant?«

»›Physiologische Liebe‹, das ist ja doppelt gemoppelt wie ein weißer Schimmel«, schnitt ihm Bubenzow das Wort ab. »Oder überwiegt bei Ihnen in Sawolshsk noch der romantische Blick auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern?«

Olimpiada errötete, so peinlich war es ihr vor diesem klugen Mann, dass Fedjakin bei ihr den Ehrenplatz an der Stirnseite der Tafel innehatte, und äußerte sich hastig gegen jede Scheinheiligkeit in der sexuellen Partnerschaft.

Bei der Postmeistersgattin ging der gewandte Petersburger noch dreister vor als bei der Frau des Gouverneurs. Als er aufbrach – vor allen anderen Gästen, als wollte er ihnen Gelegenheit geben, ihn ausgiebig durchzuhecheln –, begleitete Olimpiada, die von seinem hauptstädtischen Glanz schon geblendet war, den teuren Gast in die Diele. Sie reichte ihm die Rechte zum Händedruck (der Handkuss war bei den Progressiven selbstredend verpönt), und Bubenzow griff zu, aber er drückte nicht die Hand, sondern den Ellbogen. Mit einer sanften, doch herrischen Bewegung zog er die Dame des Hauses wortlos an sich und küsste sie so kräftig auf den Mund, dass der armen Olimpiada, die in den neunundzwanzig Jahren ihres Lebens noch nie so geküsst worden war, die Knie watteweich wurden und vor ihren Augen alles verschwamm. Mit rosigem Gesicht kehrte sie in den Salon zurück und unterband aufs energischste alle Versuche des rachsüchtigen Fedjakin, den Gegangenen zu diffamieren.

Auf diese Weise stellte Bubenzow schon am ersten Tag seines Aufenthalts im Gouvernement gute Beziehungen zu den beiden Sawolshsker Königinnen her, wobei die Freundschaft mit Olimpiada besonders angenehm war, da ihr Haus unmittelbar an das Postamt grenzte, in dem ihr Gatte Direktor war. Mit ihm stand Bubenzow ebenfalls sehr bald auf freundschaftlichem Fuß, so dass er ihn ohne Umstände in seinem Kabinett aufsuchen konnte und freien Zugang zu dem einzigen Telegraphenapparat von Sawolshsk erhielt. Von diesem Privileg machte er eifrig Gebrauch, kam sogar ohne den Telegraphisten aus, da er, wie sich zeigte, mit dem verzwickten Baudot-Apparat bestens umzugehen verstand. Es kam vor, dass der Synodalinspektor noch nach Mitternacht im Postamt vorbeischaute, etwas abschickte, etwas empfing und sich überhaupt benahm, als wäre er dort zu Hause.

Wenn aber der Triumph des baltischen Warägers bei den Damen Schwindel erregend und unbestreitbar war, so ging es mit den Männern weniger glatt.

Die einzige wirkliche Eroberung Bubenzows auf diesem Gebiet (Postmeister Schestago zählte nicht, da er eine unselbstständige Person war) wurde sein Bündnis mit dem Polizeimeister Lagrange.

Das hatte seine Gründe. Felix Stanislawowitsch Lagrange war ein Neuling in der Stadt, man hatte ihn hergesandt, um die Stelle des unlängst verblichenen Oberstleutnants Gulko einzunehmen, der viele Jahre lang dem Gouverneur und dem Bischof treu zur Seite gestanden hatte. Den Hingegangenen hatten bei uns alle geliebt, alle waren an ihn gewöhnt, und der vom Minister Eingesetzte wurde mit Argwohn aufgenommen. Der neue Polizeimeister war ein großer, schöner Mann mit sorgsam gestutzten Schläfen und malerisch geschwärztem Schnauzbart. Er schien beflissen und ehrerbietig gegenüber den Vorgesetzten zu sein, aber dem Bischof gefiel er nicht, da er um eine Beichte nachgesucht und dann unaufrichtig gesprochen hatte, auch interessierte er sich gar zu sehr für religiöse Fragen.

Die Stadt sagte dem Polizeimeister seinerseits nicht zu, vor allem weil sie so friedlich und ereignisarm war. Zum Glück kennt man im Gouvernement die revolutionäre Seuche überhaupt nicht; vor Mitrofani und dem Baron ist sie gar nicht erst aufgekommen, und seit sie das Gouvernement regieren, besteht erst recht kein Grund dazu. Wo sollte sie aufflackern? Bei uns gibt es weder große Manufakturen noch Universitäten, gravierende soziale Ungerechtigkeiten sind nicht zu beobachten, und wenn doch, kann man sich bei der Obrigkeit beschweren und braucht nicht zu meutern. Anders als sonst im Staat üblich, hat das Gouvernement nicht mal eine Gendarmerieverwaltung, denn ehedem, als es noch eine hatte, waren die Angestellten vom Nichtstun dem Suff oder der Melancholie verfallen. Der Sawolshsker Polizeimeister nimmt zugleich auch alle Angelegenheiten der Gendarmerie wahr, und davon hatte sich Lagrange verlocken lassen, als er seiner Ernennung zustimmte. Erst später begriff er, welch grausamen Scherz das Schicksal mit ihm getrieben hatte.

Die Umstände, unter denen Bubenzow und Lagrange Freundschaft schlossen, blieben den Bürgern der Stadt, denen sonst kaum etwas entging, verborgen, und da die Annäherung der beiden sich so schnell vollzogen hatte, kursierten Gerüchte: der Inspektor sei nicht von ungefähr hergeschickt worden, sondern auf Grund einer Verleumdung Lagranges, der mit allen Mitteln den Blick der höchsten Macht auf seine Person ziehen wollte. Jedenfalls ging Lagrange nach der Ankunft des Synodalinquisitors demonstrativ nicht mehr zum Bischof beichten.

So war Bubenzow binnen weniger Tage in Sawolshsk ein richtiger Staatsstreich gelungen, indem er fast alle strategischen Punkte einnahm: die Administration in der Person Ljudmila Platonownas, die Polizei in der Person Lagranges und die öffentliche Meinung mitsamt der Post und dem Telegraphenamt in der Person Olimpiada Saweljewnas. Nun musste er nur noch die Macht der Kirche und der Justiz in die Hand bekommen, aber da erlitt er eine Schlappe.