Aber diesmal war keine besoffene Schlägerei und kein jugendlicher Maximalismus die Ursache, sondern es deutete alles auf vorsätzlichen Mord, der noch dazu mit besonderer Bestialität verübt worden war. Unbekannte kopflose Leichen, aus Gott weiß was für einer tiefen Einöde angeschwemmt – das ist das eine. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn sich eine solche Untat mitten in Sawolshsk ereignet, in der vornehmsten Straße, und das Opfer ein berühmter Mann aus der Hauptstadt war, bestens bekannt in der guten Gesellschaft. Das Entsetzlichste bestand darin, dass das Verbrechen – daran zweifelte niemand – von einem Mitglied dieser Gesellschaft begangen worden war, überdies aus Motiven, welche die Phantasie gewaltig anheizten (es muss nicht erwähnt werden, dass der skandalöse Ausgang der Soiree bei der Postmeistersgattin sich noch am selben Abend in der ganzen Stadt herumgesprochen hatte).
Über diese Motive wurde hauptsächlich getratscht, und was die Person des Mörders angeht, so gab es verschiedene Mutmaßungen, die von mindestens drei Parteien vertreten wurden. Die meisten gehörten zur »Schirjajew-Partei«. Die nächstkleinere Partei sah als Schuldige die beleidigte Naina Telianowa, der nach der Geschichte mit den Hunden aber auch alles zuzutrauen war. Die dritte Partei verdächtigte Pjotr Telianow und berief sich auf dessen nihilistische Ansichten und das kaukasische Blut. Wir sagten »mindestens drei Parteien«, denn es gab auch noch eine vierte mit nur wenigen Anhängern, die jedoch einflussreich waren, denn sie standen dem Gouverneur und Matwej Berditschewski nahe. Diese raunten, hier sei so oder anders Bubenzow beteiligt, aber damit wurde gar zu eindeutig der Wunsch mit der Realität verwechselt.
Es nimmt nicht wunder, dass schon gegen Mittag ganz Sawolshsk von dem furchtbaren Ereignis wusste. Die Einwohner wirkten zugleich bestürzt und besänftigt, und der allgemeine Zustand der Gemüter war so, dass der Bischof in den Kirchen Versöhnungsgebete verrichten ließ und persönlich in der Kathedrale die Predigt hielt. Er sprach von den schweren Prüfungen, die über die Stadt gekommen seien, und es wurde deutlich, dass er keineswegs nur die Ermordung des Photographen meinte.
Unmittelbar bevor Mitrofani zu der Predigt fuhr, besuchte ihn im Klosterhof der durch Eilboten hergebetene stellvertretende Staatsanwalt Berditschewski.
»Hör zu, Matwej«, sagte der Bischof, der schon Talar und Oberkleid, aber noch nicht die Mitra und das Panhagion trug. »Übertrage die Untersuchung dieses Falls keinem anderen, leite sie selbst. Ich schließe nicht aus, dass etwas aufgedeckt wird, was zu der bewussten Person führt.« Mitrofani warf einen flüchtigen Blick auf die angelehnte Tür. »Urteile selbst. Sowohl der Ermordete als auch die Person, die er allem Anschein nach treffen wollte, sind unserem durchtriebenen Freund bestens bekannt, und mit der letzteren unterhält er irgendwelche besonderen Beziehungen. Außerdem gehört er zu den wenigen, die bei der gestrigen Auseinandersetzung dabei waren . . .«
Matwej Berditschewski fuchtelte mit beiden Händen und fiel dem Bischof sogar ins Wort, was noch nie vorgekommen war:
»Vater, das kann ich nicht! Erstens muss ich dann den Tatort aufsuchen, und ich fürchte mich vor Toten . . .«
»Na, na.« Mitrofani drohte ihm mit dem Finger. »Die Schwäche des Herzens muss man bezwingen. Bist du Staatsanwalt oder nicht? Ich nehme dich mit zu dem Alten Friedhof, von dem die Särge umgebettet werden, da der Fluss das Ufer unterspült hat. Ich werde, wie es sich gehört, Gebete sprechen, und dich beauftrage ich, das Ausgraben der sterblichen Überreste zu beaufsichtigen. Das wird deine Nerven stärken.«
»Ach, es geht nicht nur um den Toten.« Berditschewski sah dem Bischof bittend in die Augen. »Ich habe kein Talent zum Ermittler. Eine Anklageschrift aufsetzen oder auch ein Verhör führen, das kann ich, aber einen Kriminalfall aufklären, das nicht. Sie, Vater, besitzen die Gabe, Rätsel zu lösen. Schade, dass Sie nicht selbst dorthin fahren können, es schickt sich nicht für Sie.«
»Ich fahre nicht hin, aber ich gebe dir mein wachsames Auge mit. Komme herein, meine Tochter«, rief der Bischof und wandte sich der Tür zu, die zu den inneren Gemächern führte.
Herein trat eine magere Nonne in schwarzer Kutte und schwarzem Schleier und verneigte sich schweigend. Berditschewski, der Pelagia schon öfters gesehen hatte und wusste, dass sie Mitrofanis besonderes Vertrauen genoss, erhob sich und antwortete mit einer nicht minder höflichen Verbeugung.
»Du nimmst Schwester Pelagia mit«, gebot der Bischof. »Sie beobachtet gut, ist scharfsinnig und kann dir sehr nützen.«
»Aber dort sind bestimmt schon Polizisten und Lagrange persönlich.« Berditschewski breitete die Arme aus. »Wie soll ich die Anwesenheit einer Nonne erklären?«
»Sage, der Bischof kommt nach der Predigt, das geschändete Haus neu zu weihen, und schickt die Nonne, um alles vorzubereiten und zu richten, damit dem Bischof nichts Anstößiges in die Augen fällt. Und was Lagrange betrifft, so pariert der Spitzbube dir jetzt doch wohl aufs Wort.« Er sah Pelagia mit blitzenden Augen an. »Sage ihm, die Nonne ist still und demütig und von kargem Verstand, sie wird die Untersuchung nicht behindern.«
Während sie mit der Kutsche durch die Dworjanskaja fuhren, schwiegen beide, denn Pelagia empfand ein wenig Scheu vor dem klugen und hochgelehrten Begleiter, und Berditschewski hatte kaum Umgang mit geistlichen Personen (Mitrofani zählte nicht, das war ein Sonderfall) und wusste überhaupt nicht, worüber er sich mit einer Nonne unterhalten sollte.
Endlich hatte er sich ein geeignetes Thema zurechtgelegt, er öffnete den Mund und sagte:
»Mütterchen . . .« Doch schon verstummte er verlegen, denn er dachte sich, dass einer jungen Frau, selbst wenn sie Nonne war, diese Anrede seitens eines kahlköpfigen und schon ein wenig aufgeschwemmten Herrn weit über dreißig kaum angenehm sein dürfte.
Jedes Mal hatte er Schwierigkeiten im Umgang mit Pelagia, obwohl er noch nicht oft mit ihr geredet hatte. Die Nonne hatte nach seiner Meinung die sehr irritierende Eigenschaft, mal wie eine reife und weise Frau zu wirken, mal wie ein kleines Mädchen, so wie zum Beispiel jetzt.
»Das heißt . . . Schwester«, verbesserte er sich, »Sie sind doch die Schwester« (das war nun ganz dumm) »von Polina Andrejewna Lissizyna, nicht?«
Die Nonne nickte irgendwie unbestimmt, und Berditschewski fürchtete schon, eine ihm unbekannte Etikette verletzt zu haben, die es Nonnen verbot, über ihre in der Welt verbliebenen Angehörigen zu sprechen.
»Ich habe nur so gefragt . . . Sie ist eine sehr kluge und sympathische Frau und sieht Ihnen ein wenig ähnlich.« Er warf einen vorsichtigen Blick auf seine Begleiterin, die neben ihm auf dem Ledersitz schaukelte, und fügte hinzu: »Ein ganz klein wenig.«
Wer weiß, wohin dieses etwas ungewandte Gespräch noch geführt hätte, wenn die Equipage nicht auf den Kirchplatz eingebogen wäre, den Hauptplatz unserer Stadt mit der Kathedrale, dem Gouverneurshaus, den wichtigsten Ämtern, dem Konsistorium und dem Hotel »Zum Großfürsten«, wo vor vielen Jahren in der Tat der Großfürst Konstantin Pawlowitsch abgestiegen war, als er eine Erkundungsreise in die östlichen Gouvernements des Imperiums unternahm.
Vor der gusseisernen Umfriedung dieses vornehmen Hotels drängten sich lärmende Menschen, und es waren sogar Polizeimützen zu sehen. Dort geschah etwas Ungehöriges, und das in unmittelbarer Nähe zu den Residenzen der geistlichen und der weltlichen Macht, was Berditschewski als Amtsperson nicht hinnehmen konnte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er überhaupt eine Schwäche für Situationen, in denen er sich als Natschalnik zeigen konnte.
»Bleiben Sie sitzen, Schwester«, sagte er gewichtig zu Pelagia, ließ den Kutscher anhalten und ging rekognoszieren.