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»Spuren?«, fragte Berditschewski mit einem Blick auf die beiden Polizeibeamten, die mit Lupen auf dem Fußboden herumkrochen.

»Was soll es hier für Spuren geben«, antwortete der Ältere und hob das ausgemergelte faltige Gesicht. »Sie sehen ja, als ob eine Herde Elefanten herumgetrampelt wäre. Sinnlos, dass wir Scherben zusammenfügen. Zu jeder Platte gehörte ein Papierchen mit dem Titel. Weiße Laube, Sonnenuntergang am Fluss, Die kleine Nixe. Wir passen die Splitter aneinander wie in einem Kinderpuzzle. Womöglich findet sich was Brauchbares. Aber das ist unwahrscheinlich.«

»Soso.« Berditschewski fragte Lagrange halblaut: »Und wo ist. . . der Tote?«

»Kommen Sie.« Lagrange lachte. »Nächste Nacht werden Sie nicht schlafen können. Ein Stillleben.«

Berditschewski wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn und folgte dem dunkelblau uniformierten Virgil durch den Korridor. Pelagia ging leise als Letzte.

Poggio lag im Bett und blickte feierlich zur Decke, als dächte er über höchst Bedeutsames nach – jedenfalls nicht über das jämmerliche Stativ, das ihn an das Bett nagelte und aus ihm herausragte, eingeklemmt im Gewölbe des Brustkorbs.

»Absolut tödlich«, sagte der Polizeimeister und zeigte mit dem Finger im weißen Handschuh. »Der Stoß, schauen Sie bitte, wurde vertikal geführt. Also hat der Ermordete gelegen und nicht versucht aufzustehen. Wahrscheinlich hat er geschlafen. Er schlug die Augen auf und war sofort im Himmelreich. Erst hinterher hat der Mörder alles zertrümmert und zerschmettert.«

Berditschewski zwang sich, die drei zusammengeschobenen Beine des Stativs zu betrachten, die tief im Körper des Toten steckten. Sie waren aus Holz, aber unten mit Messing beschlagen und sicherlich sehr spitz.

»Ein starker Stoß«, sagte er, um Kaltblütigkeit bemüht, und versuchte, das Stativ mit den Fingern zu umgreifen, doch die schlossen sich nicht. »Eine Frau kann das nicht getan haben. Das Ding ist zu schwer und lässt sich nicht richtig umfassen.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Lagrange ihm bei. »Also scheidet Telianowa aus. Der Fall ist eigentlich sonnenklar. Ich habe nur auf den Untersuchungsführer gewartet, meine Leute haben schon alles genau unter die Lupe genommen. Möchten Sie nicht das Protokoll unterschreiben?«

Berditschewski verzog das Gesicht über diese eindeutige Verletzung der Vorschriften – ein Protokoll der Tatortuntersuchung durfte nicht ohne einen Vertreter der Staatsanwaltschaft aufgesetzt werden, darum las er absichtlich langsam. Aber es war nichts daran auszusetzen – Lagrange verstand sich auf die Polizeiarbeit, das musste man ihm lassen.

»Was für Mutmaßungen haben Sie?«, fragte Berditschewski.

»Vielleicht gehen wir lieber hinunter in den Salon, bis der da hinausgetragen ist«, schlug Lagrange vor.

So geschah es.

Sie stellten sich in eine Ecke des leeren Salons. Der Polizeimeister zündete seine Pfeife an, Berditschewski holte ein Heftchen hervor. Auch Schwester Pelagia war im Raum, sie kroch auf dem Fußboden herum, als wolle sie Müll beseitigen, in Wirklichkeit aber sammelte sie die Photoschnipsel ein und setzte sie zusammen. Die beiden Männer achteten nicht auf sie.

»Ich höre.« Berditschewski stand bereit zum Notieren.

»Der Kreis der Verdächtigen ist nicht groß, derer, die ein Mordmotiv haben könnten, noch kleiner. Wir müssen nur herausfinden, wer von den Letzteren kein Alibi hat, und fertig.«

Lagrange sah verjüngt aus: Die Augen glühten, der Schnauzbart zitterte siegesbewusst, die Hand durchschnitt energisch die Luft, die Fachausdrücke sprudelten nur so aus seinem Mund. Man konnte denken, dass er in den letzten Wochen seine Meinung über das langweilige Sawolshsk geändert hatte. Was allein der Fall der Syten wert war! Aber dieser Paukenschlag war Bubenzow Vorbehalten. Dafür konnte bei der Untersuchung dieses delikaten Mordfalls niemand dem Polizeimeister in die Quere kommen. Es ergab sich überdies die prächtige Möglichkeit, dem gescheiten und gefährlichen Herrn Berditschewski die eigene Unersetzlichkeit zu demonstrieren, die momentan in Zweifel stand wegen des Missgriffs, den er mit dem Schmiergeld getan hatte.

»Sagen Sie selbst, Matwej Benzionowitsch.« Lagrange pflückte einen Fussel vom Ärmel des stellvertretenden Staatsanwalts. »Der Zusammenhang zwischen dem nächtlichen Mord und dem abendlichen Skandal liegt auf der Hand, oder?«

»Wird wohl so sein.«

»An der Soiree bei Olimpiada Saweljewna nahmen, die Damen nicht gezählt, zehn Personen teil. Nun, den Herrn Synodalinspektor und den Adelsmarschall können wir außer Acht lassen, denn sie sind hochgestellte Leute und haben kein erkennbares Motiv. Von Seiten des Verblichenen waren eingeladen: der Gutsverwalter Schirjajew, Fürst Telianow, der Kaufmann erster Gilde Sytnikow und der Gutsbesitzer Krasnow. Von Seiten der Hausfrau: der Gymnasialdirektor Sonin, der Anwalt Kleist und der Architekt Brandt. Außerdem hatte Bubenzow seinen Sekretär Selig mitgebracht.«

»Wird wohl so sein«, sagte Berditschewski wieder, während er schnell mit dem Bleistift kritzelte. »Und Sie verdächtigen natürlich vor allem Schirjajew und in zweiter Linie Telianow?«

»Nicht so schnell.« Lagrange lächelte entzückt. »Ich mag den Kreis der Verdächtigen noch nicht einengen. Nehmen wir nur die Damen. Die Fürstin Telianowa war die Zielscheibe des gestrigen Skandals. Wenn sie den Mord auch nicht selbst begangen hat, kann sie Anstifterin oder Beteiligte gewesen sein; ich komme darauf zurück. Nun zu Madame Lissizyna.«

Pelagia erstarrte, ohne das Photo der Nackten am Strand fertig zusammengefügt zu haben.

»Eine höchst ungewöhnliche Person. Man weiß nicht, was sie so lange in Sawolshsk macht. Angeblich ist sie hergekommen, um ihre Schwester wiederzusehen, eine Nonne. Warum treibt sie sich dann auf Bällen und in Salons herum? Überall geht sie hin, alle kennen sie. Sie ist lebhaft, kokett, verdreht den Männern den Kopf. Nach allem zu urteilen, eine Abenteurerin.«

Berditschewski schielte verlegen zu Pelagia, doch die tat, als hätte sie nichts gehört, sie beschäftigte sich konzentriert mit ihren Schnipseln.

»Heute früh habe ich eine telegraphische Anfrage an das Departement geschickt, ob Polina Andrejewna Lissizyna vielleicht in irgendeinen Fall verwickelt gewesen sei. Und was meinen Sie? Sie war, und gleich dreimal! Vor drei Jahren in Perm, als der Mönch Pafnuti ermordet wurde. Voriges Jahr in Kasan, als die wundertätige Ikone geraubt wurde, und schließlich in Samara, als es um den Untergang des Dampfers ›Swjatogor‹ ging. In allen drei Fällen trat sie vor Gericht als Zeugin auf. Wie finden Sie das?«

Berditschewski blickte wieder zu der Nonne, aber nicht verlegen, sondern fragend.

»Ja, interessant«, gab er zu. »Aber wir haben ja schon festgestellt, dass eine Frau für diesen Mord nicht in Frage kommt.«

»Trotzdem ist Lissizyna teuflisch verdächtig. Aber egal, das klären wir noch. Und jetzt kommen wir zu den Verdächtigen ersten Grades, das heißt, zu denen, die Poggio seit langem kennen und Grund hatten oder haben konnten, ihn zu hassen.« Lagrange hob den Zeigefinger. »An erster Stelle natürlich Schirjajew. Er liebt die Gräfin Telianowa bis zum Wahnsinn und ist schon während der Vernissage auf Poggio losgegangen, man konnte ihn kaum von ihm wegreißen. Der zweite ist ihr Bruder, Pjotr Telianow.« Der Polizeimeister hob den Mittelfinger. »Hier ist wahrscheinlich auch verletzte Eitelkeit im Spiel. Telianow hat später als alle anderen begriffen, dass seiner Schwester ein schwerer Schimpf angetan wurde, und stand damit als Dummkopf oder Feigling da. Er ist ein unausgeglichener junger Mensch mit schlechten Neigungen. Er steht unter öffentlicher Aufsicht, und ich traue diesem Nihilisten jede Schurkerei zu. Wenn er sogar schon nach den Grundlagen des Staates ausgeholt hat, was soll ihm da ein Menschenleben wert sein? Und hier wäre es sogar in gewissem Sinne entschuldbar – er trat für die Ehre seiner Schwester ein. Aber das ist noch nicht alles.« Zu den zwei Fingern gesellte sich der Ringfinger, freilich eingebogen. »Sytnikow. Ein verschlossener Herr, aber mit Leidenschaften. Nach meinen Informationen ist er keineswegs gleichgültig gegenüber den Reizen der Telianowa. Und da haben Sie auch schon das Motiv – Eifersucht auf den erfolgreicheren Rivalen, Sytnikow würde nie als Räuber in der Nacht auftreten, das wäre unter seiner Würde, aber einen seiner Leute losschicken, das brächte er wohl fertig. Seine Angestellten sind sämtlich Altgläubige. Bärtig, finster, gegen die Macht eingestellt.« Die Idee von den altgläubigen Mördern schien nach Lagranges Geschmack zu sein. »Ja, durchaus möglich. Man wird es Bubenzow melden müssen.«