»Apropos Bubenzow«, bemerkte Berditschewski mit harmloser Miene. »Da ist ja auch nicht alles klar. Man behauptet, die Fürstin Telianowa habe Poggio nicht einfach so verlassen, sondern wegen Bubenzow.«
»Humbug.« Der Polizeimeister schwenkte die Hand mit gespreizten Fingern. »Weibertratsch. Mag ja sein, dass die Telianowa sich nach Bubenzow verzehrt, kein Wunder, er ist ja auch ein besonderer Mann. Aber sie ist ihm völlig gleichgültig. Auch wenn früher zwischen ihnen was gewesen sein sollte. Wo ist das Motiv? Eifersucht auf eine Geliebte, die ihm nichts bedeutet und die er loswerden möchte? Deswegen einen Mord begehen? Das gibt es nicht, Matwej Benzionowitsch.«
Berditschewski musste zugeben, dass Lagrange Recht hatte.
»Wie gehen wir nun vor?«, fragte er.
»Ich meine, für den Anfang wäre es nicht schlecht, alle drei gründlich zu verhören . . .«
Der Polizeimeister sprach nicht weiter, denn er sah etwas abseits die Nonne stehen. Die Photoschnipsel lagen, säuberlich zu Quadraten geordnet, auf dem Fußboden längs der Wand.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, rief er gereizt. »Packen Sie das zusammen und gehen Sie. Noch besser, Sie fegen den ganzen Müll hier zusammen.«
Pelagia verneigte sich schweigend und stieg hinauf in den ersten Stock.
Die Polizeibeamten, welche die Haussuchung durchgeführt hatten, saßen im Laboratorium und rauchten Papirossy.
»Na, Schwesterchen?«, sagte fröhlich der Polizist mit dem faltigen Gesicht. »Was verloren?«
Die Nonne sah, dass die Glasscherben eingesammelt und geordnet worden waren wie die Schnipsel im Salon. Der Spaßvogel war ihrer Blickrichtung gefolgt und bemerkte:
»Da sind welche bei, die Sie nicht ansehen sollten. Er war ein lebenslustiger Herr, dieser Poggio. Schade, dass die Bilder nicht wiederherzustellen sind.«
Pelagia fragte:
»Sagen Sie, mein Herr, gibt es hier eine Photoplatte mit dem Titel ›Ein regnerischer Morgen‹?«
Der Polizist hörte auf zu lächeln und zog verwundert die Brauen hoch.
»Seltsam, Schwester, dass Sie danach fragen. In dem Verzeichnis hier steht ›Ein regnerischer Morgen‹, aber die Platte haben wir nicht gefunden. Keinen Splitter. Wahrscheinlich war er damit unzufrieden und hat sie weggeworfen. Was wissen Sie darüber?«
Pelagia schwieg, die rötlichen Brauen zusammengezogen. Sie überlegte.
»Also, was ist denn nun mit dem ›Regnerischen Morgen?«, beharrte der Faltige.
»Stören Sie nicht, mein Sohn, ich bete«, antwortete die Nonne zerstreut, drehte sich um und stieg hinunter.
Im Salon nämlich fehlte das Photo mit diesem Titel. Alle aus den Schnipseln zusammengesetzten Bilder entsprachen den an den Wänden gebliebenen Titeln, selbst die drei mit der nackten Unbekannten, die den Skandal ausgelöst hatten. Von der Aufnahme aber, die den unauffälligen Titel »Ein regnerischer Morgen« trug, war nicht das winzigste Fragment vorhanden.
»Und doch muss Bubenzow auch vernommen werden!«, hörte sie, als sie den Salon betrat.
Berditschewski und Lagrange schienen sich über den Kreis der Verdächtigen nicht einigen zu können.
»Einen solchen Mann durch Zweifel zu beleidigen! Besinnen Sie sich, Herr Berditschewski! Natürlich unterstehe ich Ihnen, aber . . . Was willst du denn noch?«, schnauzte der Polizeimeister Pelagia an.
»Man muss alle zusammenholen, die gestern hier waren, und gemeinsam für das Seelenheil des verschiedenen Gottesknechts beten«, sagte sie und sah Lagrange mit ihren glänzenden braunen Augen demütig an. »Vielleicht wird der Unmensch von Reue erfasst.«
»Raus hier!«, blaffte Lagrange. »Weshalb haben Sie sie überhaupt mitgebracht?«
Berditschewski nickte Pelagia unbemerkt zu und nahm den Polizeimeister beim Ellbogen.
»Ich weiß, was zu tun ist. Beten bringt natürlich nichts, aber eine Gegenüberstellung wäre als Untersuchungsexperiment gar nicht schlecht. Wir holen alle gestrigen Teilnehmer zusammen, angeblich um zu rekonstruieren, wer wann wo war und was er gesagt hat. . .«
»Ausgezeichnet!«, griff Lagrange auf. »Sie haben großes kriminalistisches Talent! Und die Fürstin Telianowa muss unbedingt dabei sein. Allein ihr Anblick wird die Kampfhähne wieder in Rage bringen, und dann verrät sich der Mörder. Das Verbrechen ist ja nicht kaltblütig, sondern im Affekt begangen worden. Ein leidenschaftlicher Mensch kann sich nicht beherrschen. Heute Abend holen wir sie zusammen. Und ich verliere keine Zeit und überprüfe die Alibis der Hauptverdächtigen.«
»Vergessen Sie auf keinen Fall Bubenzow.«
»Sie schaffen mich noch, Matwej Benzionowitsch, Sie schneiden einem Ihnen ergebenen Menschen ohne Messer ins Herz«, klagte Lagrange bitter. »Und wenn er mir dann böse ist?«
»Passen Sie auf, dass ich Ihnen nicht böse werde«, antwortete Berditschewski leise.
Alles wurde genauso arrangiert wie bei der unglücksseligen Soiree, sogar mit Häppchen und Wein (natürlich nicht Champagner, das wäre übertrieben gewesen). Der glückliche Gedanke, aus der erniedrigenden polizeilichen Prozedur einen Gedenkabend für Arkadi Poggio zu machen, war der Postmeistersgattin Olimpiada gekommen, die sich heute noch mehr als Geburtstagskind fühlte als tags zuvor. Als sie am Morgen von der Tragödie erfuhr, war sie natürlich zunächst erschrocken und hatte sogar nach Frauenart den armen Poggio bedauert, auch ein paar Tränen vergossen, doch etwas später, als klar wurde, dass der skandalöse Ruhm ihrer Soiree ihre kühnsten Erwartungen übertraf und die wichtigsten Ereignisse womöglich noch bevorstanden, war ihre Trauer wie weggeblasen, und sie nutzte die zweite Tageshälfte, um das schwarze Moirekleid herzurichten, das seit der letzten Beerdigung eingemottet im Schrank hing.
Zu dieser neuen Soiree waren beinahe dieselben Leute erschienen, diesmal nicht eingeladen, sondern vorgeladen. Aus begreiflichen Gründen fehlte Arkadi Poggio, ihn ersetzten der stellvertretende Staatsanwalt und der Polizeimeister. Außerdem war im Gegensatz zum Vortag von Anfang an die Fürstin Naina Telianowa anwesend, die eine offizielle Benachrichtigung bekommen hatte und pünktlich um neun eingetroffen war, obwohl Lagrange befürchtet hatte, sie unter Bewachung herschaffen zu müssen.
Die Verursacherin des Unglücks (die meisten Anwesenden hielten sie dafür) stellte mit ihrer Ankunft die Hausfrau sofort in den Schatten. Sie war heute noch schöner als sonst. Das lila Trauerkleid stand ihr vorzüglich, die langen schwarzen Handschuhe betonten die Schlankheit ihrer Arme, und die samtigen Augen verströmten ein besonderes, geheimnisvolles Licht. Ihr war nicht die geringste Verlegenheit anzumerken, im Gegenteil, sie benahm sich wie die Königin, um derentwillen dieser Leichenschmaus veranstaltet wurde.
Der Hauptverdächtige war still, schweigsam und völlig verändert. Polina Lissizyna bemerkte verwundert, dass sein Gesicht heute besänftigt und sogar zufrieden aussah.
Dafür sträubte Fürst Pjotr Telianow sozusagen alle Stacheln wie ein Igel, ließ ständig Sottisen gegen die Vertreter der Macht los, empörte sich lautstark über das schändliche Spektakel und wandte sich demonstrativ von seiner Schwester ab, um zu zeigen, dass er mit ihr nichts zu tun haben wollte.