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Von den übrigen Teilnehmern fiel Krasnow auf, der unentwegt schluchzte und sich in ein gewaltiges Tuch schnäuzte. Zu Beginn des Abends hatte er den Wunsch geäußert, eine Ode zum Gedächtnis des Toten vorzutragen, konnte aber nur zwei Strophen zu Gehör bringen, da Berditschewski die Deklamation wegen Unangebrachtheit unterband. Die Strophen gingen so:

Starb in der Blüte seiner Jahre,

Magier der Linse und des Lichts.

Des Schicksals Schwert, es blitzte blutig,

Gehorsam dem Befehl des Henkers.

Und Gottes lebensvolle Flamme,

Sie leuchtet nun niemandem mehr,

Und voll Entsetzen sank die Erde

In allertiefste Finsternis.

Bubenzow kam wieder als Letzter und wieder ohne Entschuldigung – wie denn auch, Lagrange erging sich in wortreichen Rechtfertigungen und bat um Verzeihung, dass er einen so beschäftigten Menschen von seinen staatswichtigen Aufgaben abhielt.

»Nicht doch, Sie tun nur Ihre Pflicht«, warf Bubenzow gelangweilt hin, ließ sich von seinem Sekretär einen Aktendeckel geben und nahm in einem Sessel Platz. »Ich hoffe nur, dass es nicht lange dauert.«

»Noch gestrigen Tags sprach er mit euch, und plötzlich kam ihm die schreckliche Todesstunde. Denn wir alle werden verschwinden, werden sterben, Kaiser gleichwie Fürsten, Reiche gleichwie Arme, das ganze Menschengeschlecht«, sprach Tichon Selig gefühlvoll, und nach diesen traurigen Worten begann eigentlich das Experiment.

Lagrange packte den Stier bei den Hörnern.

»Meine Damen und Herren, ich darf Sie in den Salon bitten«, sagte er und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.

Genau wie am Abend zuvor begaben sich die Gäste in den Ausstellungsraum. Allerdings hingen da heute keine Bilder, nur die Papierstreifen mit den Titeln der unwiederbringlich verlorenen Kunstwerke waren geblieben.

Lagrange zeigte auf den Titel »An der Meeresbucht«.

»Ich hoffe, Sie alle erinnern sich an die drei Photographien einer entblößten Frau, die hier, hier und hier gehangen haben«, begann er und stieß den Zeigefinger dreimal gegen die leere Tapete.

Die Antwort war Schweigen.

»Ich weiß, das Gesicht des Modells war auf keinem der Bilder vollständig zu sehen, aber ich wünsche, dass Sie mit vereinten Bemühungen versuchen, einige Züge zu rekonstruieren. Es wäre für die Untersuchung enorm wichtig, diese Frau zu identifizieren. Aber vielleicht kennt sie einer der Anwesenden?«

Der Polizeimeister starrte die Fürstin Telianowa an, doch die bemerkte den prüfenden Blick gar nicht, denn sie guckte nicht auf den Sprecher, sondern auf Bubenzow. Der aber stand abseits und studierte konzentriert ein Papier.

»Nun gut«, sagte Lagrange drohend. »Dann gehen wir den langsamen und taktlosen Weg. Wir rekonstruieren das Aussehen des Modells in Teilen, und zwar in den Teilen, die gewöhnlich unter der Kleidung verborgen sind, denn über das Gesicht werden wir kaum viel erfahren. Trotzdem, beginnen wir mit dem Kopf. Welche Farbe hatten die Haare der Person?«

»Sie waren hell, mit einem goldenen Schimmer«, sagte die Gattin des Adelsmarschalls. »Sehr dicht und ein wenig gelockt.«

»Ausgezeichnet.« Der Polizeimeister nickte. »Ich danke Ihnen, Jewgenia Anatoljewna. Ungefähr so?« Er zeigte auf die Löckchen, die unter Naina Telianowas Hut hervorschauten.

»Sehr gut möglich«, lispelte die Gräfin errötend.

»Und der Hals? Was ist zu dem zu sagen?«, fragte Lagrange und seufzte mit der Miene eines Menschen, dessen Geduld zu Ende geht. »Danach reden wir eingehend über die Schultern, den Rücken, die Büste, den Bauch, die Beine. Und die sonstigen Teile der Figur, einschließlich der Hüften und Pobacken, ohne die geht es nicht.«

Lagranges Stimme wurde drohend, und das peinliche Wort Pobacken sprach er singend, mit besonderem Nachdruck.

»Aber vielleicht brauchen wir das alles gar nicht?«, wandte er sich unverblümt an die Fürstin Telianowa.

Die lächelte ruhig, sie genoss sichtlich die auf sie gerichteten Blicke und die allgemeine Verlegenheit. Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen der Schamhaftigkeit, die sie am Vorabend fast zum Weinen gebracht hätte.

»Nun, mal angenommen, Sie fragen als Nächstes nach der Brust und den Pobacken«, sagte sie achselzuckend. »Und weiter? Wollen Sie alle Frauen des Gouvernements nackend ausziehen, um sie zu identifizieren?«

»Wieso denn alle?«, zischte Lagrange. »Nur die Verdächtigen. Und das Ausziehen brauchen wir nicht, wozu solch ein Skandal? Es wird genügen, ein paar besondere Merkmale zu vergleichen. Ich führe ja diese Befragung aus formalen Gründen und zur nachfolgenden Protokollierung durch, dabei habe ich schon mit etlichen der Anwesenden gesprochen und weiß, dass die uns interessierende Person auf der rechten Pobacke zwei auffällige Muttermale und unterhalb der Brüste einen hellen Pigmentfleck von der Größe einer Halbrubelmünze hat. Sie ahnen ja nicht, Fürstin, wie aufmerksam ein Männerauge solche Einzelheiten wahrnimmt.«

Das war auch für die unbeugsame Naina zu viel, sie lief puterrot an und wusste nichts zu sagen.

Da kam ihr Frau Lissizyna zu Hilfe.

»Ach, meine Herren, warum reden wir immer nur von denselben Photographien!«, zwitscherte sie, bemüht, von dem anstößigen Thema abzulenken. »Hier waren doch so viele wunderbare Landschaften! Dort zum Beispiel hing eine fabelhafte Arbeit, die mich sehr beeindruckt hat. Erinnern Sie sich? Sie hieß ›Ein regnerischer Morgen‹. So etwas Expressives, so ein Spiel von Licht und Schatten!«

Berditschewski warf der Dame, die sich so unpassend eingemischt hatte, einen missvergnügten Blick zu, und Lagrange zog gar drohend die Brauen zusammen und schien die Zwitscherin zur Ordnung rufen zu wollen, aber dafür war Naina Telianowa über den Themenwechsel sichtlich erfreut.

»Aber ja, über dieses interessante Bild hätten wir reden sollen!«, rief sie und lachte böse, schien auf etwas anzuspielen. »Ich habe es gestern genau betrachtet, jedoch nicht weil es so expressiv war. Meine liebwerte Dame, das Bemerkenswerteste daran war durchaus nicht das Spiel von Licht und Schatten, sondern ein interessantes Detail . . .«

»Aufhören!«, brüllte Lagrange, er verfärbte sich dunkelrot. »Es wird Ihnen nicht gelingen, mich in die Irre zu führen! All das Herumgerede bringt nichts, wir verschwenden nur Zeit.«

»So ist es«, sprach Selig. »Es steht geschrieben: Die Seligen halten sich die Ohren zu, auf dass sie das Ungute nicht hören. Und es steht geschrieben: Bist du unter Unvernünftigen, so hüte deine Zeit.«

»Ja, Lagrange, Sie verschwenden wirklich Zeit«, sagte plötzlich Bubenzow und blickte von seinem Papier auf. »Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll, und Sie veranstalten hier solch ein Melodram. Sie haben mir doch vorhin gemeldet, Sie hätten einen sicheren Beweis. Legen Sie ihn vor, und fertig.«

Nach diesen Worten warf Berditschewski, der weder von einem sicheren Beweis noch von Lagranges Absprache mit Bubenzow Kenntnis hatte, dem Polizeimeister einen wütenden Blick zu. Der wurde verlegen und wusste nicht, vor wem er sich in erster Linie rechtfertigen sollte.

»Meine Herren«, sagte er, »ich wollte vor allem anschaulich die Logik des Verbrechens aufzeigen. Und aus Barmherzigkeit dem Täter die Chance geben, ein Geständnis abzulegen. Ich dachte, wir stellen jetzt fest, dass die Photographien die Fürstin Telianowa abbilden, dann braust Schirjajew auf, tritt für sie ein und gesteht. . .«

Alle ächzten auf und wichen vor Schirjajew zurück. Er stand wie festgewachsen, bewegte nur den Kopf nach rechts und links.

»So?«, bedrängte Berditschewski den Polizeimeister. »Sie haben also einen sicheren Beweis gegen Schirjajew?«