»Matwej Benzionowitsch, ich habe noch nicht melden können«, stammelte Lagrange, »das heißt, es ging mir um den Effekt, Entschuldigung.«
»Was soll denn das? Reden Sie zur Sache!«, fuhr Berditschewski ihn an.
Lagrange wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Was soll ich reden, der Fall ist klar. Schirjajew ist in die Fürstin Telianowa verliebt und hat davon geträumt, sie zu heiraten. Da aber erscheint der Herzensbrecher Poggio aus der Hauptstadt. Er verdreht ihr den Kopf, verführt sie. Es ist ganz klar, dass sie es war, die ihm für die Nacktaufnahmen posierte. Schirjajew hat schon seit einiger Zeit von Poggios Beziehungen zu der Fürstin gewusst oder es zumindest geahnt, aber sich etwas vorzustellen ist etwas anderes als ein anschaulicher Beweis, noch dazu so skandalöser Art. Die Beweggründe für Poggios unanständige Handlungsweise will ich nicht beurteilen, denn sie haben mit dem hier zu untersuchenden Verbrechen nicht unmittelbar zu tun. Gestern hat sich Schirjajew vor aller Augen mit den Fäusten auf den Beleidiger gestürzt und würde ihn wohl gleich hier totgeschlagen haben, wenn man ihn nicht weggezogen hätte. Darauf hat er die Nacht abgewartet, ist in die Wohnung eingedrungen und hat die Sache zu Ende geführt. Und aus noch ungestillter Rachsucht sämtliche Schaffensfrüchte seines Feindes zerstört, auch den Apparat, mit dessen Hilfe Poggio ihm, Schirjajew, die schwere Beleidigung zufügte.«
»Aber all das haben wir doch schon besprochen«, sagte Berditschewski unzufrieden. »Diese Version ist wahrscheinlich, beruht jedoch nur auf Mutmaßungen. Wo bleibt der ›sichere Beweis‹?«
»Matwej Benzionowitsch, ich hatte Ihnen versprochen, die Alibis aller Hauptverdächtigen zu überprüfen. Damit haben sich meine Agenten heute beschäftigt. Fürst Telianow hat sich gestern volllaufen lassen, er hat bis tief in die Nacht geweint und geschrien, und dann haben seine Diener ihm Bouillon zu trinken gegeben. Das ist ein Alibi. Herr Sytnikow ist von hier direkt in die Warschawskaja-Straße gefahren, in das Etablissement der Madame Gruber, und war dort bis zum Morgen in Gesellschaft einer gewissen Semfira, die laut Pass Matrjona Sitschkina heißt. Das ist auch ein Alibi.«
»Sieh mal an, der Altgläubige«, sagte Bubenzow und stieß einen Pfiff aus. »Ich möchte wetten, dass Semfira Sitschkina eine gewisse Ähnlichkeit mit Naina Telianowa hat, nach der sich Seine Ehren seit langem die Finger leckt.«
Sytnikow, bestürzt über diese Wendung, schwieg, aber er warf Bubenzow einen Blick zu, aus dem klar wurde: Der scharfsinnige Psychologe hatte sich nicht geirrt.
»Nun, und was Herrn Schirjajew betrifft«, spielte der Polizeimeister seinen Trumpf aus, »so hat er kein Alibi. Mehr noch, es wurde glaubhaft festgestellt, dass er zur Nacht nicht nach Drosdowka zurückkehrte, in keinem Hotel der Stadt übernachtete und auch keinen seiner hiesigen Bekannten aufsuchte. Gestatten Sie also die Frage«, wandte er sich schroff an Schirjajew, »wo und wie haben Sie die letzte Nacht verbracht?«
Schirjajew senkte den Kopf und schwieg. Seine Brust hob sich schwer.
»Das ist der sichere Beweis, der einem Geständnis gleichkommt.«
Lagrange wies mit einer theatralischen Geste auf den überführten Verbrecher. Dann klatschte er dreimal laut in die Hände.
Herein kamen zwei Polizisten, die offensichtlich schon vorher informiert worden waren, denn sie traten sofort zu Schirjajew und nahmen ihn bei den Armen. Er zuckte mit dem ganzen Körper, sagte aber auch jetzt nichts.
»In die Verwaltung bringen«, gebot Lagrange. »In die Zelle für Adlige. Ich komme mit Herrn Berditschewski, ihn verhören.«
Schirjajew wurde zum Ausgang geführt. Er blickte immer wieder zurück zu der Fürstin, und sie sah ihn mit einem sonderbaren Lächeln an, ungewohnt sanft und beinahe zärtlich. Zwischen ihnen war kein Wort gewechselt worden.
»Sie sehen«, sagte Lagrange bescheiden, vor allem an Bubenzow und Berditschewski gewandt, »die Untersuchung hat wirklich nicht lange gedauert. Meine Damen und Herren, ich danke allen für die Mithilfe und bitte um Entschuldigung, falls ich Ihnen unangenehme Momente bereitet habe.«
Diese zurückhaltenden und vornehmen Worte waren so erhaben gesprochen, wie es der Moment erforderte, und als jetzt Naina Telianowa das Wort nahm, glaubten zunächst alle, dass sie Lagrange meinte.
»Das ist ein edler Mann, nicht wie die anderen«, sagte sie nachdenklich, wie für sich, doch dann hob sie die Stimme: »Schade, meine Herren Gesetzeshüter, Sie werden Stepan Trofimowitsch freilassen müssen. Ich wollte ihn prüfen – ob er es sagt oder nicht. Denken Sie nur, er hat es nicht gesagt! Ich bin sicher, er würde eher in die Zwangsarbeit gehen, als es preiszugeben. Stepan Trofimowitsch hat keinen Mord begangen, denn er war die ganze letzte Nacht bei mir. Wenn meine Aussage Ihnen nicht genügt, können Sie ja das Zimmermädchen fragen. Als er gestern mit den Fäusten für meine Ehre eintrat, hat es mir innerlich einen Ruck gegeben . . . Aber das geht Sie nichts an. Warum klappern Sie mit den Augen?«
Sie lachte sehr unangenehm und warf Bubenzow einen seltsamen Blick zu, herausfordernd und zugleich flehend. Der lächelte schweigend, wie in Erwartung weiterer Geständnisse. Als klar wurde, dass alles gesagt, das Untersuchungsexperiment fehlgeschlagen war und Lagrange, völlig bestürzt, die Sprache verloren zu haben schien, fragte Bubenzow spöttisch die Vertreter der Macht:
»Na, ist das Konzert beendet? Können wir gehen? Unterleibchen, bring mir den Havelock.«
Der Sekretär schlüpfte sogleich hinaus, kam wieder herein und reichte seinem Gebieter den leichten Samthavelock und die Schirmmütze.
»Habe die Ehre.« Bubenzow verbeugte sich sardonisch und begab sich zum Ausgang.
Von hinten sah er in seinem eleganten Aufputz genauso aus wie der geckenhafte Gardist, der er vor kurzem noch gewesen war.
»Derselbe Havelock«, sagte Naina Telianowa laut. »Dieselbe Schirmmütze. Wie sie im Mondlicht geblinkt hat. . .«
Es war nicht zu erkennen, ob das Fräulein die untröstliche Ophelia spielte oder ob sie wirklich den Verstand verloren hatte und wirr redete.
»Wir verlassen euren fauligen Sumpf. Vielleicht heiraten wir, und ich bekomme sogar Kinder. Dann wird mir alles verziehen«, fuhr die Fürstin mit ihrem Unsinn fort. »Aber zuerst müssen die Schulden beglichen werden, damit alles gerecht zugeht. Nicht wahr, Wladimir Lwowitsch?«
Bubenzow, der schon in der Tür stand, drehte sich fröhlich verständnislos zu ihr um.
Da schritt die Fürstin Telianowa majestätisch an ihm vorüber, wobei sie ihn mit der Schulter streifte, und verschwand im Vorzimmer. Offenbar hatte sie doch gelernt, gemessen von der Bühne abzugehen.
»Ein eisernes Fräulein«, sagte Sytnikow begeistert. »Ich weiß ja nicht, um wessen Schulden es geht, aber an dessen Stelle möchte ich nicht sein.«
»Tja«, brummte Berditschewski. »Und Schirjajew werden wir freilassen müssen, Felix Stanislawowitsch.«
Der Polizeimeister murmelte:
»Das ist nicht gesagt. Verhören werden wir ihn unbedingt, auch die Fürstin und das Zimmermädchen. Eine verbrecherische Absprache ist denkbar. Von einer so hysterischen und unanständigen Person kann man auf alle möglichen Exzesse gefasst sein.«
Aber ihm hörte niemand mehr zu. Die Teilnehmer des Experiments waren einer nach dem anderen gegangen.
Polina Lissizyna kehrte voller Sorgen in ihre Wohnung bei der Obristenwitwe zurück. Die ehrenwerte Antonina Iwanowna hatte sich gleich nach dem Abendessen zur Ruhe begeben und lag zu dieser späten Stunde schon in süßen Träumen, und Polina war froh, nicht mit Gesprächen und Befragungen behelligt zu werden.
In ihrem Zimmer zog sie sich rasch aus, legte dann aber kein Nachtgewand an, wie zu erwarten, sondern entnahm ihrer Reisetasche die schwarze Kutte und verwandelte sich blitzgeschwind in die demütige Schwester Pelagia. Auf leisen Sohlen durchquerte sie den Korridor und schlüpfte durch die Küche hinaus auf die Straße.