Die winddurchwehte Neumondnacht nahm die Klosterschwester willig in ihre schwarze Umarmung, und Pelagia huschte, ein kaum erkennbarer Schatten, an den schlafenden Häusern entlang.
Vom Standpunkt Pelagias war das »Untersuchungsexperiment« des Polizeimeisters sehr nützlich gewesen, so nützlich, dass es dringend notwendig geworden war, unter vier Augen mit Naina Telianowa zu reden, jetzt gleich, ohne den nächsten Tag abzuwarten. Die rätselhafte Photographie mit dem Titel »Ein regnerischer Morgen« war Polina Lissizynas Gedächtnis gänzlich entschwunden, und doch gab ihr Gespür ihr ein, dass genau dort der Schlüssel zu der hässlichen Geschichte zu finden sein konnte. Natürlich wäre es einfacher gewesen, gleich nach dem Untersuchungsexperiment in der Maske der Madame Lissizyna direkt die Fürstin aufzusuchen, aber anständige Damen fuhren nicht allein durch die nächtliche Stadt und gingen erst recht nicht zu Fuß, das wäre zu auffällig gewesen, doch auf die bescheidene Nonne achtete niemand.
Sie hatte ein ganzes Stück zu gehen, bis zum Flussufer, wo das alte Haus stand, das die Fürstin Telianowa geerbt hatte. Mitternacht rückte näher. Um diese Zeit schliefen in Sawolshsk nur die Verliebten nicht – und die Wachposten (die schliefen übrigens auch, wenngleich in ihrem Schilderhaus), darum begegnete der Nonne unterwegs keine Menschenseele.
Einen seltsamen Anblick bietet unsere friedliche Stadt in einer trüben Herbstnacht. Es ist, als wäre die ganze Einwohnerschaft auf den Wink einer geheimnisvollen Kraft in weite Fernen entschwunden, und geblieben wären nur die dunklen Häuser mit den schwarzen Fenstern, die niederbrennenden Laternen und die sinnlosen Glockentürme mit den verwaisten Kreuzen. Und wenn einen schlaflosen Menschen aus Nervenschwäche der Grusel überkommt, kann er leicht auf die Vorstellung verfallen, dass in der Nacht in Sawolshsk die Macht gewechselt hat und bis zum Morgen, der Sonne und Licht zurückbringt, hier die Kräfte der Finsternis regieren, von denen jedwede Niedertracht und Schlechtigkeit zu erwarten ist.
Scheußlich war es in der Stadt. Menschenleer, ohne Leben, unheildrohend.
Nacht. Fluss
Als Pelagia in die Warrawkin-Gasse einbog, die zum Hause der Fürstin führte, zuckte über den Himmel ein lautloses – und dadurch noch erschreckenderes – blendend grelles Wetterleuchten, und danach erschien die Dunkelheit so dicht, dass die Nonne unwillkürlich stehen blieb, da sie die Umrisse der Häuser nicht mehr erkennen konnte. Als sie sich ein wenig gewöhnt hatte, machte sie ein paar Schritte, und abermals ein weißes Aufflammen, und abermals musste sie die Augen zukneifen und warten. Und jetzt drang aus weiter Ferne ein langsam grollender Donner.
Und so ging es weiter: ein, zwei Dutzend Schritte durch die tiefe Finsternis, dann das satanische Aufzucken des grellen Lichts und wieder die Schwärze, angefüllt mit dem dumpfen Brüllen des auf die Stadt zurasenden Sturms.
Das Haus zu finden war nicht schwer. Der nächste Blitz entriss der Dunkelheit die kleine Villa mit dem toten, zugenagelten Obergeschoss, den hölzernen Zaun und dahinter das windgezauste Laub der Bäume. Wenn das Donnergrollen verstummte, war zu hören, wie irgendwo hinter dem Haus und den Bäumen der aufgewühlte Fluss ungebärdig rauschte. Hier ragte das Ufer besonders steil auf, und das Flussbett verengte sich auf sechshundert Meter, so dass selbst an ganz ruhigen Tagen der eingeschnürte Strom stürmisch und ärgerlich an der Steilküste vorbeisauste; bei schlechtem Wetter aber tobte und schäumte der Fluss dermaßen, dass er, gleichsam erzürnt über die ihn einzwängende Stadt, das verhasste Ufer zu unterspülen und die Stadt in sein gischtendes Wasser zu reißen trachtete.
Der Garten hinter dem Haus mündete in einen Birkenhain, in dem sich an schönen Abenden die Sawolshsker gern ergingen – der Blick von dort auf die Weite des Flusses war gar zu schön. Dieser Hain war zum Tode verurteilt, denn in einem, in zwei, höchstens in fünf Jahren würde der Fluss das Ufer so weit ausgewaschen haben, dass er das Wäldchen entwurzeln und stromab tragen würde bis ins Kaspische Meer, vielleicht noch weiter. Eine Welle würde einen voll gesogenen und salzgetränkten Birkenstamm ans ferne persische Gestade werfen, und dunkelhäutige Menschen würden sich versammeln, um das Wunder zu bestaunen. Eine der Birken hatte sich nach dem Frühjahrshochwasser bereits über den Fluss geneigt, sie hielt sich noch mit der letzten Wurzel am Ufer fest und schwebte über der Strömung, anzusehen wie ein weißer Zeigefinger. Die mutigeren Jungs schaukelten auf der Birke, und viele sagten, man müsse den Baum hinunterstoßen, bevor ein Unglück geschehe, aber das zu tun fand sich keiner.
Pelagia krümmte sich fröstelnd im Wind, sie stand ein Weilchen bei der Pforte und blickte auf die dunklen Fenster des Hauses. Sie würde die Fürstin Naina Telianowa zu wecken haben. Das war gewiss peinlich, doch es musste sein.
Die Pforte öffnete sich krächzend, die Stufen der alten Vortreppe knarrten mehrstimmig wie die Tasten eines ausgetrockneten Klaviers. Die Nonne horchte, ob von innen etwas zu hören war. Stille. Wenn nun niemand zu Hause war?
Entschlossen betätigte sie den Messingklopfer, der das Glöckchen ersetzte. Und horchte wieder.
Doch, es war jemand da – sie hörte eine Stimme, oder quietschte eine Türangel?
»Machen Sie auf!«, schrie die Nonne. »Ich bin’s, Schwester Pelagia vom Klosterhof!«
War sie gehört worden? Kein Laut.
Sie rüttelte an der Tür, die war verriegelt. Also war jemand zu Hause, schlief jedoch und hörte nicht. Oder hörte doch, wollte aber niemanden einlassen?
Pelagia klopfte weiter, um zu zeigen, dass sie nicht unverrichteter Dinge gehen würde. Der Messingbügel schlug so laut, dass die Hausfrau oder das Zimmermädchen auf-wachen musste.
Und wieder kam aus der Tiefe des Hauses, schon deutlicher, eine leise, irgendwie rufende Stimme. Jemand schien ein paar Töne zu singen und wieder zu verstummen.
Das war sehr sonderbar.
Pelagia stieg die Vortreppe hinunter und blickte zu den Fenstern. Wie zu erwarten, waren sie angelehnt, der Abend vor dem Gewitter war schwül gewesen. Die Nonne raffte ihr Gewand fast bis zum Gürtel, stieg auf einen Vorsprung, hielt sich am Fensterbrett fest und stieß das Fenster auf.
Aber sie konnte nichts sehen, drinnen war es stockfinster.
»Hallo!«, rief Pelagia furchtsam. »Ist jemand da? Naina Georgijewna, sind Sie da? Naina Georgijewna!«
Keine Antwort, nur der Fußboden knarrte leise – da ging jemand, oder das Haus seufzte.
Die Schwester bekreuzigte sich, und in diesem Moment entlud sich der Himmel in einem gleißenden Blitz, und das Zimmer war so hell beleuchtet wie an einem sonnigen Mittag. Das dauerte nur eine Sekunde, aber es genügte Pelagia, um einen kleinen Salon zu erkennen und mittendrin auf dem Fußboden etwas Weißes, Längliches.
»Heilige Mutter Gottes, erbarme dich«, murmelte Pelagia und stieg über das Fensterbrett.
Von wegen »eisernes Fräulein«! Sie war nach Hause gekommen und – in Ohnmacht gefallen. Kein Wunder nach den Erschütterungen. Aber wo war das Zimmermädchen?
Pelagia hockte sich hin, tastete mit den Händen, berührte etwas Warmes. Das dünne Gewebe eines Hemdes, eine weiche Brust, ein Gesicht. Pelagia entnahm ihrer Gürteltasche Phosphorzündhölzer und riss eines an.
Es war nicht Naina Telianowa, sondern ein unbekanntes rundgesichtiges Mädchen – barhäuptig, im Nachthemd, ein Tuch über die Schultern geworfen. Wahrscheinlich das Zimmermädchen. Die Augen waren geschlossen, der Mund stand etwas offen. Die Haare sahen seltsam aus, an den Enden hell, doch oben, über der Stirn, schwarz und glänzend. Pelagia fasste hin – und zog die Hand mit einem Schrei zurück. Nass. Ihre Finger sahen nun auch schwarz aus. Blut!
Das Zündholz erlosch, und Pelagia wich auf allen vieren zurück zum Fenster. Die Brille fiel leise klirrend zu Boden, aber nach ihr suchen mochte sie nicht.