Aus dem Fenster klettern und Hals über Kopf weglaufen von diesem schrecklichen schweigsamen Haus!
Aber da war wieder der Laut von vorhin – die leise, gleichsam rufende Stimme. Nur war jetzt zu hören, dass es kein Rufen und kein Singen war, sondern ein schwaches Stöhnen. Es kam aus dem dunklen Innern des Hauses, und da konnte sie nicht davonlaufen.
Mit stockendem Herzen richtete sich Pelagia auf, zeichnete ein winziges Kreuz über ihre linke Brusthälfte und betete in Gedanken zu ihrer Schutzpatronin, der heiligen Pelagia, die sie nur in äußerster Not anzurufen pflegte:
»Bitte Gott für mich, heilige Gottesdienerin Pelagia, an die ich mich voll Inbrunst wende, hilf mir und bete für meine Seele . . .«
Und da half ihr die Gottesdienerin, die schöne Römerin, die verbrannt worden war. Ein schwaches Wetterleuchten erhellte für einen Moment die Finsternis, und Pelagia erblickte auf dem Fensterbrett einen Messingleuchter mit einer Kerze. Das war ein gutes Zeichen, es kräftigte ihre Seele.
Das erste Zündholz zerbrach in ihren zitternden Fingern, das zweite auch, erst das dritte setzte die Kerze in Brand, und die Nonne konnte jetzt Umschau halten.
Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war ein deutlicher Stiefelabdruck auf dem Fensterbrett mit der Spitze nach innen. Pelagia wandte dem Fenster den Rücken zu und hob die Hand mit dem Leuchter höher. Jetzt war zu sehen, dass der Kopf des Zimmermädchens in einer dunklen Lache lag. Die verlorene Brille blinkte. Pelagia hob sie auf, fand das linke Glas gesprungen, hatte aber keine Zeit, sich zu ärgern.
Folgendes Bild zeichnete sich ab. In der Nacht, als im Hause schon alles schlief, war jemand durchs Fenster eingestiegen und hatte wohl Lärm gemacht. Das Zimmermädchen war nachsehen gekommen, und der Eindringling hatte sie mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen.
Pelagia hockte sich hin und berührte mit dem Finger die Schläfe, um die Ader zu fühlen. Doch die pulsierte nicht, das Mädchen war tot. Die Nonne murmelte ein Gebet, aber ohne Inbrunst, sie horchte.
Wieder das Stöhnen. Ganz nah, vielleicht zehn Schritte.
Sie machte einen Schritt, einen zweiten, einen dritten, bereit, beim ersten Anzeichen einer Gefahr die Kerze hinzuwerfen und zurückzustürzen zum offenen Fenster.
Vor ihr war eine dunkle Türöffnung.
Der Korridor?
Pelagia machte noch einen Schritt und erblickte Naina Telianowa.
Die Fürstin lag im Korridor auf dem Fußboden, gleich neben dem Salon.
Sie trug ein leichtes Neglige und ein Spitzenhäubchen. Ein bestickter Samtpantoffel lag abseits. Weiter hinten war eine Tür zu erkennen, die wohl ins Schlafzimmer führte. Aber Pelagia hatte keine Zeit, sich umzusehen, denn Nainas Häubchen war von Blut durchtränkt, die großen Augen der Herzensbrecherin blickten starr nach oben, darin spiegelten sich zwei Lichtpünktchen. Und dann sah die Schwester noch einen großen Stein, der auf dem Fußboden lag. Unwillkürlich dachte sie an den toten Sakussai unter dem Bäumchen und bekreuzigte sich.
Naina Telianowa lebte noch, aber es ging mit ihr zu Ende, das begriff die Nonne sofort, als sie mit den Fingern den scharfen Rand der eingeschlagenen Schädeldecke berührte. Einst während ihrer Novizenzeit hatte Pelagia im Klosterspital gearbeitet, so dass sie einige medizinische Erfahrung besaß.
Die langen Wimpern zuckten, der Blick der Sterbenden richtete sich langsam, gleichsam widerwillig auf die Nonne.
»Ah, Schwester Pelagia«, sagte die Fürstin kein bisschen verwundert, sie schien sich sogar zu freuen.
Deutlich, etwas gedehnt sprechend (wie es bei Schädelverletzungen zu sein pflegt), teilte sie mit:
»Ich sterbe jetzt.« Sprach’s und schien sich ein wenig über ihre Worte zu wundern. »Ich spüre es. Aber ich habe keine Angst. Tut auch nicht weh.«
»Ich lauf los und hol Hilfe«, sagte Pelagia schluchzend.
»Nicht nötig, es ist zu Ende. Ich mag nicht wieder allein sein im Dunkeln.«
»Wer hat das getan?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Da war Lärm. Ich habe gerufen, Dunjascha war still. Ich wollte nachsehen – ein Schlag. Dann nichts mehr. Später habe ich aus weiter Ferne eine Frauenstimme gehört, die rief: ›Naina Georgijewna!‹ Niemand da. Dunkel. Ich dachte: Wo bin ich, was ist mit mir . . .« Ihre Mundwinkel zuckten, sie wollte wohl lächeln. »Es ist gut, dass ich sterbe. Das Beste, was passieren kann. Und dass Sie hier sind, ist ein Zeichen, ein Gotteswunder. ER vergibt mir. Ich bin schuldig vor ihm. Ich schaff’s nicht mehr, alles zu erzählen, es verschwimmt. Vergeben Sie mir einfach meine Sünden. Dass Sie kein Priester sind, macht nichts, Sie sind eine geistliche Person.«
Pelagia, mit den Zähnen klappernd, sprach die vorgeschriebenen Worte:
»Gleichwie die Regentropfen im Sommer, so schwinden mählich meine schlimmen und niederen Tage, errette mich, Mutter Gottes . . .«
Naina Telianowa sagte: »Erbarme dich, erbarme dich . . .«, aber immer leiser. Ihre Kräfte ließen unerbittlich nach. Als die Nonne das Gebet beendet hatte, konnte die Fürstin nicht mehr sprechen und lächelte nur schwach.
Pelagia beugte sich über sie und fragte:
»Was war auf dem Photo? Mit dem regnerischen Morgen?«
Es schien, dass die Antwort ausbleiben würde. Aber nach einer Weile regten sich die blassen Lippen:
»Eine Espe . . .«
»Was für eine?«
»Eine le-ben-dige. Und eine Hacke.«
»Wer ist lebendig? Was für eine Hacke?«
Hinter Pelagia knarrte der Fußboden, nicht so leise wie vorhin, sondern sehr vernehmlich, wie unter einem schweren Fuß.
Pelagia fuhr herum und schrie auf. Aus dem dunklen Schlafzimmer erschien langsam, wie unwirklich, wie in einem Alptraum, eine schwarze Silhouette.
»Aah!«, schrie die Nonne und ließ die Kerze fallen, die sofort erlosch.
Das rettete ihr das Leben. In der tiefschwarzen Finsternis waren rasche Schritte zu hören, und über den Kopf der hingekauerten Nonne hinweg pfiff, ihre Stirn mit einem Luftzug streifend, etwas Schweres.
Die Nonne hastete gebückt in den Salon. Hier war es auch stockfinster, nur die drei grauen Rechtecke der Fenster zeichneten sich undeutlich ab. Von hinten hörte Pelagia einen keuchenden Atem und das Scharren von Schuhen auf dem gebohnerten Fußboden. Pelagia und ihr Verfolger konnten einander nicht sehen. Aus Furcht, sich durch ein Geräusch zu verraten, blieb sie reglos stehen und starrte in die Dunkelheit. Poch-poch-poch, hämmerte ihr armes Herz, und dieser Trommelwirbel – so schien es Pelagia – erfüllte den ganzen Salon.
Jemand bewegte sich in der Dunkelheit, kam aus dem Korridor näher. Die Finsternis pfiff: ssst! Und noch einmal, schon näher: ssst!
Pelagia begriff: Der Mann schlug mit einem Knüppel, oder was er da hatte, aufs Geratewohl zu. Sie musste weg. Also stürzte sie zu dem mittleren grauen Rechteck. Dabei warf sie einen Stuhl um, verwünschte ihr ewiges Ungeschick, hielt sich aber auf den Füßen. Dafür stolperte der Verfolger, der hinter ihr hertrampelte, über den Stuhl und polterte zu Boden. Ein anderer würde aufgeschrien oder geflucht haben, doch dieser gab keinen Laut von sich.
Pelagia stieg aufs Fensterbrett, blieb aber mit der Kutte an einem Vorsprung hängen. Sie zog aus Leibeskräften, doch das derbe Gewebe gab nicht nach. Eine kräftige Hand packte die Nonne von hinten am Kragen, und diese Berührung schien ihre Kräfte zu verzehnfachen. Sie zerrte mit aller Gewalt, und da riss die Kutte am Saum und am Kragen – und Gott der Herr errettete sie, sie sprang nach draußen. Ob sie sich wehgetan hatte, wusste sie nicht. Sie spähte nach rechts und links.
Rechts waren die Pforte und die Straße. Dorthin durfte sie nicht. Bis sie die Pforte geöffnet hatte, würde er sie einholen. Und selbst wenn es ihr gelang, die Straße zu erreichen, würde sie in der Kutte nicht entkommen.