Dieser Gedanke durchzuckte ihr Gehirn, und schon rannte sie nach links, hinter die Hausecke.
Von oben prasselte urplötzlich ein Sturzregen nieder, so dicht, dass Pelagia sich fast verschluckt hätte. Nun war überhaupt nichts mehr zu sehen. Sie lief durch den Garten, durch den Hain, die Hände vorgestreckt, um nicht gegen einen Stamm zu prallen.
In der Nähe schlug ein Blitz ein. Pelagia drehte sich im Laufen um und sah die weißen Stämme, die gläserne Wand des Regens und dahinter, zwanzig Schritte entfernt, etwas Schwarzes, Bewegliches.
Sie konnte nicht weiter. Noch ein Dutzend Schritte, dann gähnte der Abgrund. Pelagia sah ihn nicht, aber sie spürte seinen Hauch. Der Fluss war in dem ohrenbetäubend peitschenden Sturzregen nicht zu hören.
Vor ihr war der Abgrund, hinter ihr patschten Schritte durch die Pfützen, nicht mal sehr eilig, denn der Verfolger wusste genau, dass die Nonne nirgendshin mehr fliehen konnte, vielleicht fürchtete er auch, sie könnte sich unter einem Busch verstecken
Links war undeutlich etwas Weißes zu erkennen. Eine Art Finger zeigte nach vorn und ein wenig aufwärts, dahin, wo abends der erste Stern aufzuschimmern pflegte.
Die Birke! Die über dem Steilhang schwebte!
Pelagia lief zu dem sterbenden Baum, ließ sich auf alle viere nieder und kroch vorwärts, bemüht, nicht daran zu denken, dass es unter ihr vierzig Meter in die Tiefe ging. Sie erreichte die Baumkrone, umklammerte den Stamm, schmiegte sich mit der Wange an die rauhe Rinde. War sie vom Ufer aus zu sehen oder nicht?
Natürlich war sie zu sehen – schwarz auf weiß!
Pelagia setzte sich mit einem Ruck auf, ließ die Füße herunterhängen. Sie riss sich das schwarze Tuch ab, warf es weg. Sie zog die Kutte über den Kopf, aber die war schwer, voll gesaugt, wollte nicht in die Dunkelheit fliegen, klebte sich an ihre Ellbogen, an ihr Kinn. Als sie endlich nachgab, nahm sie aus Rache die Brille mit. Aber was nützte die Brille, wenn ohnehin nichts zu sehen war?
Pelagia drehte sich mit dem Gesicht zum Ufer und lehnte sich mit dem Rücken an einen dicken abgebrochenen Ast. Sie hatte nur noch das leinene Unterhemd an und zitterte am ganzen Leibe, aber nicht vor Kälte, sondern vor Entsetzen.
»Beschützerin, Beschützerin«, flüsterte die Nonne, und ihr fiel nicht ein, wie das Gebet an die Heilige Gottesmutter weiterging.
Der Regen überschwemmte ihr Gesicht, Wasserstrahlen peitschten den schräg ragenden Stamm, tief unten brüllte der Fluss, aber Pelagias angespanntes Gehör fing auch andere Geräusche auf.
Schläge von Holz gegen Holz. Schritte. Knacken von Zweigen.
Irgendwann hört das auf, sagte sich die Nonne. Das kann nicht ewig so weitergehen. Er wird dort noch eine Weile herumstreifen und dann gehen.
Aber die Zeit schien still zu stehen. Vielleicht ist dies das Weitende, kam es plötzlich der Nonne in den Sinn. Vielleicht hört alles auf: die Finsternis, die Sintflut, das herzzerreißende Entsetzen, die Schritte in der Dunkelheit – Schlimmeres war ohnehin nicht auszudenken.
Ach, ausgerechnet jetzt musste ein Blitz über den Himmel zucken. Dabei war das Gewitter schon weitergezogen zu den Wäldern jenseits des Flusses, und geblieben waren nur der Regen und der Wind.
Aber ein letztes Aufflackern erhellte den Birkenhain, und da sah Pelagia ganz in der Nähe, zwischen den nass glänzenden Büschen, eine schwarze Gestalt. Und noch schlimmer war, dass auch sie entdeckt war.
Die Schritte kamen näher. Die Birke schwankte – jemand hatte sich auf den Stamm gestellt.
Die Nonne rutschte, mit den Händen nachhelfend, auf den Hinterbacken immer weiter. Der Stamm knarrte, neigte sich. Jetzt überragte er den Abgrund nicht mehr schräg, sondern parallel zum Fluss.
»Gehen Sie weg«, rief Pelagia mit zitternder Stimme, denn sie konnte das Schweigen nicht länger ertragen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, ich habe Sie nicht gesehen. Sie haben also nichts zu befürchten. Laden Sie sich nicht noch eine Sünde auf die Seele, es reicht so schon. Sie kriegen mich sowieso nicht, dann stürzen wir zusammen ab.«
Der schwarze Schweiger schien selber erkannt zu haben, dass der Baum die doppelte Last nicht tragen würde.
Es blieb ein Weilchen still. Dann hörte Pelagia Geräu-sche, die sie nicht gleich zu deuten wusste. Es gluckerte, schmatzte, hämmerte. Die Birke wurde lebendig, sie schwankte, knarrte.
Er untergräbt die Wurzel, begriff Pelagia plötzlich. Und als sie es begriffen hatte, war ihre Angst verschwunden. Es erwies sich, dass Angst ein anderer Name für Hoffnung ist. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wird auch die Angst sinnlos.
Das Gebet fiel ihr wieder ein: »Beschützerin, barmherzige Mutter Gottes! Zu dir flehe ich Unglückliche, ich schlimme Sünderin, vernimm du mein Flehen und mein Seufzen . . .«
Bei den Worten »wie ein Schiff im Strudel versinke ich im Meer meiner Sünden« senkte sich der Birkenstamm immer stärker und warf die Nonne in den schwarzen und hallenden Raum.
Mit ausgebreiteten Armen flog sie frei und lautlos durch die Leere, hin zu dem Lärm, dem Gebrüll, dem Geplätscher.
». . . von nun an und in alle Ewigkeit. Amen.«
Der Fluss empfing sie unerwartet weich federnd. Pelagia spürte keine Nässe, denn sie war ohnehin völlig durchweicht, und dass sie nicht mehr in der Luft war, sondern unter Wasser, merkte sie an der Eingeengtheit und der verlangsamten Abwärtsbewegung.
Sie ruderte mit den Armen, stieß sich mit den Beinen ab und strebte nach oben. Aber das Wasser wollte sie nicht loslassen, sondern zog sie irgendwohin, wirbelte sie herum, und sie konnte nicht länger die Luft anhalten. Gleich, gleich öffne ich den Mund, und dann komme, was will, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr und riss den Mund weit auf, bereit, den Fluss in ihre Lungen einzulassen, aber ihre Lippen saugten kein Wasser ein, sondern Luft und Spritzer, denn in diesem Moment war ihr Kopf aus gischtenden Wellen aufgetaucht.
Sie atmete gierig ein, noch mal und noch mal, vergaß das Ausatmen, hustete, da zog die Unterwasserströmung sie hinunter, und sie verschwand wieder unter Wasser.
Diesmal war das Auftauchen noch mühevoller, denn die schweren Schuhe wollten ihren Körper in die Senkrechte strecken, damit der Fluss es leichter hätte, sie auf den Grund zu ziehen. Pelagia krümmte sich zusammen und zog die Schuhe aus, da wurde der Kampf mit dem Wasser leichter. Sie strampelte in den einhüllenden Umarmungen der Strömung, stieß sich ab und glitt nach oben, nach oben.
Wieder schluckte sie Luft, der Fluss trug seine Beute durch die Dunkelheit, wirbelte sie wie zum Vergnügen herum, mal im Uhrzeigersinn, mal ihm entgegen. Ganz in ihrer Nähe, nicht mit der Hand zu erreichen, aber erkennbar, schwamm etwas Helles in derselben Richtung wie sie und ebenso schnell. Pelagia ahnte mehr, als sie sah: die Umrisse abgebrochener Äste, und sie begriff, das war ihre Birke, ihre Leidensgefährtin.
Die wenigen Meter zu dem Baum zu überwinden war gar nicht einfach. Der Fluss schien zu glauben, dass Pelagia mit ihm spielen wolle, und ging bereitwillig darauf ein. Wenn sie schon so nahe heran war, dass ihre Finger die glitschige Borke berührten, warf der Fluss den Baum leicht und fröhlich, wie einen Holzspan, zur Seite. Einmal trieb es ihn weit weg, und Pelagia verlor die rettende Silhouette aus dem Blick. Lange würde sie sich nicht mehr über Wasser halten können, zu oft wirbelte es sie herum, und von Zeit zu Zeit wurde sie von einer Welle überspült, so dass sie sich heftig verschluckte.
Als Pelagia sich schon mit dem Verschwinden des Baums abgefunden hatte, schwamm er von selbst aus der Dunkelheit heran und klopfte mit einem Zweig an ihren Hinterkopf.
Abgekämpft hielt sich Pelagia erst mal an einem Ast fest und genoss es, dass sie nicht mehr zu strampeln brauchte. Als sie wieder bei Puste war, erklomm sie den Stamm. Ein paarmal glitt sie ab, kratzte sich die Schulter auf, aber schließlich schaffte sie es doch und setzte sich rittlings auf die Birke.