»Später stäch ich dich ab, nicht jätzt. Sonst töten sie mich sofort. Wenn Wolodja Vorsprung hat, stäch ich dich ab.«
Berditschewski kniff die Augen zu, er konnte die wahnsinnigen Augen, den schwarzen Bart und die blutende Wange nicht mehr sehen.
Draußen schrie Lagrange:
»Fahr die Droschke in die Kupetscheskaja! Ihr drei, marsch zu den Stadttoren. Die Schlagbäume runter! Jelissejew, nimm dir vier Mann und ab zum Pferdestall!«
Jetzt kommt Bubenzow nicht mehr weg, dachte Berditschewski, doch Trost brachte ihm das nicht. Er kriegte kaum Luft, so fest hielt ihn Murad im Würgegriff. Vor Entsetzen wurde ihm übel, und ihn durchzuckte sogar der Gedanke: Soll er doch zustechen, dann hat die Qual ein Ende.
Über das Fensterbrett schob sich vorsichtig der Kopf von Lagrange.
»Herr Berditschewski, sind Sie am Leben?«
Dshurajew antwortete:
»Wenn du dich einmischst, ist är tot.«
Da wurde der Polizeimeister mutiger, hob die Hand mit dem Revolver über das Fensterbrett und sagte grienend:
»Na, Dshurajew, hast du alle Kugeln verschossen? Ich habe mitgezählt. Wenn du Seiner Hochwohlgeboren ein Härchen krümmst, knall ich dich ab wie einen tollwütigen Hund. Lebendig nehm ich dich nicht gefangen. Das schwör ich bei Gott dem Herrn.«
»Murad fürchtet nicht dän Tod«, antwortete der verächtlich und hielt Berditschewski wie einen Schild vor sich.
Lagrange kletterte langsam aufs Fensterbrett.
»Das lügst du, mein Lieber. Den Knochenmann fürchtet jeder.«
Er setzte sich vorsichtig aufs Fensterbrett.
»Noch ein Schritt, und ich stäche ihn ab«, versprach der Tscherkesse leise.
»Schon gut«, beruhigte ihn der Polizeimeister. »Ich lege meinen Revolver hier hin.«
Er legte wirklich die Waffe an die Kante des Fensterbretts, so dass die Mündung über dem Boden schwebte, und schlug ein Bein über das andere.
»Dshurajew, einigen wir uns gütlich.« Lagrange holte ein Etui hervor und steckte sich eine Papirossa an. »Du hast mir zwei Männer durchlöchert. Dafür müsste ich dich auf der Stelle umlegen. Aber wenn du jetzt Seine Hochwohlgeboren loslässt und dich ergibst, bring ich dich lebendig ins Gefängnis. Und wir werden dich nicht mal schlagen, mein Offiziersehrenwort.«
Dshurajew knurrte nur.
»Na, habt ihr ihn?«, fragte Lagrange in den Hof hinaus.
Ihm wurde etwas geantwortet, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
»Ach, ihr Strolche, ihr habt ihn entwischen lassen?«, brüllte der Oberst aufgebracht und hieb mit der Faust auf das Fensterbrett, doch so ungeschickt, dass er genau den Revolverlauf traf.
In völliger Übereinstimmung mit den physikalischen Gesetzen vollführte der Revolver einen raffinierten Salto in der Luft und krachte mitten in der Stube auf den Boden.
Der Tscherkesse ließ seinen Gefangenen los und war mit einem Raubtiersprung bei der Waffe.
Und da zeigte sich, dass der fliegende Revolver ein Trick des gewieften Polizeimeisters war. Wie durch Hexerei hielt Lagrange einen zweiten, kleineren Revolver in der Hand, und der spie Feuer und Qualm gegen Dshurajew.
Die Kugeln schleuderten den Kaukasier gegen die Wand, aber er sprang sofort wieder auf die Beine und rückte mit dem Dolch gegen den Polizeimeister vor.
Lagrange zielte genauer, schoss noch dreimal und traf jedes Mal, doch Murad fiel nicht, aber jeder Schritt machte ihm jetzt größere Mühe.
Als der Tscherkesse nur noch einen Meter von Lagrange entfernt war, sprang dieser auf den Boden, setzte Murad die Mündung direkt an die Stirn, und die obere Schädelhälfte flog in Splittern auseinander.
Der Tote schwankte und stürzte endlich zu Boden.
»Ist der zählebig, der Teufel«, sagte der Polizeimeister, über den Leichnam gebeugt und schüttelte verwundert den Kopf. »Geradezu ein Wiedergänger. Sehen Sie, er klappert noch mit den Augen. Das glaubt einem keiner.«
Dann trat er zu Berditschewski, der nach all den Erschütterungen halb tot war, und hockte sich neben ihn.
»Alle Achtung, Matwej Benzionowitsch, Sie sind ein Draufgänger.« Er wiegte respektvoll den Kopf. »Dass Sie keine Angst hatten, das vom Hinterausgang zu rufen!«
»Aber es hat nichts genützt«, sagte Berditschewski mit schwacher Stimme. »Bubenzow ist trotzdem entkommen.«
Lagrange lachte, dass seine weißen Zähne blitzten.
»Aber woher denn! Wir haben ihn gefasst, auch seinen sauberen Sekretär. Direkt im Pferdestall.«
»Im Ernst?« Berditschewski verstand überhaupt nichts mehr.
»Ich habe absichtlich geflucht, für den Tscherkessen. Damit der Trick mit dem fliegenden Revolver echter aussah.«
Vor Begeisterung und Erleichterung fand Berditschewski nicht gleich die richtigen Worte.
»Ich . . . Wirklich, Felix Stanislawowitsch, Sie sind mein Retter . . . Das werde ich Ihnen nicht vergessen . . .«
»Das wünsche ich mir sehr.« Der wackere Polizeimeister blickte Berditschewski forschend in die Augen. »Ich werde Ihnen auch künftig treu und redlich dienen, Ehrenwort. Aber hängen Sie die Geschichte mit dem Schmiergeld nicht an die große Glocke, verdammt soll sie sein. Der Teufel hat mich geritten. Ich habe das Geld dem Kaufmann zurückgegeben. Legen Sie beim Bischof und beim Gouverneur ein gutes Wörtchen für mich ein, ja?«
Berditschewski stieß einen Stoßseufzer aus, er dachte daran, wie er gegen die bei Beamten verbreitete Bestechlichkeit gewettert hatte, die wie Distelgestrüpp alle guten Absichten durchwucherte; und nahmen sie kein Geld, dann zumindest kleine Geschenke.
Und ein gerettetes Leben – ist das kein Geschenk?
Die Gerichtsverhandlung
Der Prozess über die Sawolshsker Morde fand in dem erstaunlich geräumigen und geschmackvollen neuen Gebäude des Gouvernementsgerichts statt. Anton von Gaggenau hatte selbst den architektonischen Entwurf bestätigt und den Bau persönlich beaufsichtigt, weil er ihm eine besondere Bedeutung beimaß. Er pflegte zu sagen, dass man aus dem Äußeren eines Gerichtsgebäudes schließen könne, ob die Gesetzlichkeit in dem jeweiligen Ort geachtet werde. In Russland seien die Gerichtsgebäude schmutzig, eng, schäbig, darum geschehe in ihnen so viel Unrecht und Missbrauch. Der Gouverneur vertrat unbeirrt die vielleicht naive Überzeugung: Wenn ein Gerichtssaal eine gewisse Ähnlichkeit mit einem sauberen und schönen Gottestempel habe, werde es dort auch bedeutend weniger Rechtsverletzungen geben. Und noch eine Erwägung hatte den Gouverneur bewogen, für den Bau eine so beträchtliche Summe bereitzustellen: Das neue Gerichtsgebäude sollte das goldene Jahrhundert der Sawolshsker Geschichte markieren, das sich auf dem festen Fundament von Gesetzlichkeit und Rechtlichkeit gründete.
Der Bau war gerade rechtzeitig fertig geworden, denn in dem früheren Gerichtssaal hätten nicht einmal die Ehrengäste Platz gefunden, die zu dem Prozess erschienen. Der neue Tempel der Themis fasste mühelos an die fünfhundert Zuschauer. Das war natürlich nur ein kleiner Teil derer, die der Verhandlung des Aufsehen erregenden Falles beiwohnen wollten, doch für die notwendigen Leute reichten die Plätze (zu diesen Leuten gehörten außer den offiziellen Personen und den Ehrengästen die Creme der Sawolshsker Gesellschaft, zahlreiche Journalisten, Schriftsteller aus der Hauptstadt und Vertreter des juristischen Standes, die wie Heuschrecken aus ganz Russland zu diesem gerichtlichen Turnier geströmt waren). Die außerordentliche Präsenz der Juristen erklärte sich auch daraus, dass als Verteidiger Lomejko persönlich gewonnen werden konnte, eine Leuchte der russischen Anwaltschaft und europäische Berühmtheit. Allen war noch sein vorjähriger Triumph gegenwärtig, als er Freispruch für die Schauspielerin Granatowa erwirkte, diese hatte die Ehefrau ihres Liebhabers, des Theaterunternehmers Anatoliski, erschossen.