Gegen einen so gefährlichen Gegner konnte der beschränkte Gouvernementsstaatsanwalt natürlich nicht antreten, und der Bischof, im Bunde mit dem Gouverneur, nötigte teils durch Überredung, teils durch Gewalt Berditschewski, das Amt des öffentlichen Anklägers zu übernehmen. Diese Wahl wurde auch dadurch befördert, dass Berditschewski sich durch seinen Einsatz bei der Festnahme der gefährlichen Verbrecher den Ruhm eines Helden erworben hatte, zumindest im Gouvernement.
Die Reputation eines Draufgängers und eines Mannes der Tat war Berditschewski unsagbar angenehm, denn in der Tiefe seiner Seele wusste er sehr wohl, dass er sie nicht verdiente. Aber der Preis für den Ruhm war nicht gering.
Vor Aufregung verlor der stellvertretende Staatsanwalt schon zwei Wochen vor dem Prozess Schlaf und Appetit. Er wusste selbst nicht, wen er mehr fürchten sollte: den gewieften Lomejko, die scharfzüngigen Zeitungsreporter oder den Zorn des allmächtigen Oberprokurors Konstantin Petrowitsch. Letzterer hatte eine ganze Delegation unter der Leitung des stellvertretenden Oberprokurors Heller zur Verhandlung entsandt, denn der Sawolshsker Skandal hatte dem Prestige der höchsten Glaubenshüter-Instanz des Reiches schweren Schaden zugefügt.
Zum ersten Mal musste Berditschewski vor einem breiten (und auch hohen) Publikum auftreten. Nun, wenn er stotterte oder mit zitternder Stimme spräche, wäre das nicht weiter schlimm, man würde es einem Staatsanwalt der Provinz nachsehen. Schlimmer war, dass die Anklage auf schwachen Füßen stand.
Auf Rat seines Anwalts hatte Bubenzow während der Ermittlung keine Aussagen gemacht. Frech schwieg er, betrachtete den schwitzenden Berditschewski wie eine Assel, polierte sich die Fingernägel, gähnte. In seine Zelle zurückgekehrt, schrieb er Beschwerden an höhere Instanzen.
Selig wiederum, unter dem Verdacht der Beihilfe verhaftet, redete viel, teilte aber nichts Nützliches mit. Zumeist klagte er über seine Gesundheit und schwafelte über Göttliches. Also mussten die Beweggründe des Verbrechens während der Verhandlung aufgedeckt werden.
So war der Stand der Dinge an dem Tag, an dem sich vor den glücklichen Besitzern von Gastkarten die hohen Türen des neuen Gerichtsgebäudes öffneten und die Verhandlung begann, die nicht nur in die Annalen unseres Gouvernements eingehen sollte, sondern auch in die Lehrbücher der Jurisprudenz.
Die Anordnung der Plätze im Saal unterschied sich von der sonst üblichen dadurch, dass hinter dem Richtertisch noch zwei Reihen Sessel für die angesehensten Gäste aufgestellt waren. Da saßen der stellvertretende Oberpro-kuror des Heiligen Synods und seine zwei nächsten Gehilfen, der Gouverneur und der Adelsmarschall, beide mit Gattin, die Gouverneure der beiden Nachbargouvernements (selbstredend ebenfalls mit Gattin) und Bischof Mitrofani, hinter dessen Schultern wie ein schwarzes Vögelchen eine Nonne hervorschaute, die vom Saal einstweilen überhaupt nicht wahrgenommen wurde.
Den Vorsitz führte der geachtetste und gelehrteste unserer Richter, der im Generalsrang war. Alle wussten, dass er aus Altersgründen bereits den Abschied eingereicht hatte, und erwarteten von ihm völlige Unvoreingenommenheit. Für jeden Juristen ist es schmeichelhaft, eine lange und würdige Karriere mit einem so herausragenden Prozess zu beschließen. Die beiden anderen Mitglieder des Gerichts waren hoch angesehene Friedensrichter, der eine noch jung, der andere wohl älter als der Vorsitzende.
Den hauptstädtischen Anwalt Lomejko begrüßte das Publikum mit lebhaftem Beifall, und er wuchs in die Höhe und Breite wie ein aufgehender Hefeteig. Bescheiden und würdevoll verneigte er sich vor dem Gericht, vor den Zuschauern und mit betontem Respekt vor Bischof Mitrofani, was bei den Einwohnern sehr gut ankam. Guri Samsonowitsch Lomejko hatte wohl selbst Ähnlichkeit mit dem Bischof – ebenso stattlich, klaräugig, mit grau meliertem Vollbart.
Auch der Staatsanwalt wurde freundlich begrüßt, wenn auch vorwiegend von den Ortsansässigen, die ihm dafür lauter applaudierten als der hauptstädtischen Koryphäe. Berditschewski, blass, mit blauen Lippen, verbeugte sich steif und raschelte mit einem dicken Stoß von Papieren.
Sodann wurden in langwieriger Prozedur die Geschworenen vorgestellt, und hier bewies der Verteidiger eine erstaunliche Härte, indem er entschieden zwei altgläubige Kaufleute, einen Ältesten der Syten und merkwürdigerweise sogar den Direktor des Gymnasiums ablehnte. Der Ankläger legte keinen Protest gegen solches Ansinnen ein, er gab mit seiner ganzen Haltung zu verstehen, dass die Zusammensetzung der Geschworenen keine Bedeutung habe, denn der Fall sei ohnehin klar.
In diesem Sinne hielt Berditschewski auch sein Plädoyer. Er begann erwartungsgemäß verworren und unbeholfen und schnäuzte sich gar beim zweiten Satz, aber dann fing er sich (besonders als ihm teilnahmsvoll applaudiert wurde) und sprach im Weiteren gewandt, glatt und zuweilen sogar beseelt.
Er hatte sich sorgfältig vorbereitet und die wichtigsten Passagen auswendig gelernt. Gegen Ende der zweiten Stunde legte er eine effektvolle Pause ein, zeigte mit drohend erhobenem Finger auf den Angeklagten und richtete die Augen himmelwärts, ohne lächerlich zu wirken, was kaum einem Staatsanwalt gelingt. Sein Plädoyer wurde viele Male von Beifall unterbrochen, und einmal erntete er sogar eine Ovation (als er aufs anrührendste über die verführte und verlassene Fürstin Telianowa sprach – hier konnten etliche Damen ein Schluchzen nicht unterdrücken).
Es war ein vorzügliches Plädoyer mit feinsten psychologischen Nuancen und umwerfenden rhetorischen Fragen. Wir hätten es gern ausführlich wiedergegeben, aber das würde zu viel Platz einnehmen, denn es dauerte mehr als drei Stunden. Auch fügte es den uns bereits bekannten, etwas unausgegorenen Schlussfolgerungen von Schwester Pelagia kaum etwas Neues hinzu, aber es verlieh ihnen mehr Gewicht, Überzeugungskraft und sogar Glanz. Mit Bedauern verzichten wir auf die ganze Psychologie und die Beispiele rhetorischer Kunst und beschränken uns auf die Hauptpunkte der Anklage.
Also, dem Angeklagten Bubenzow wurde zur Last gelegt: der Mord an dem Kaufmann Wonifatjew und seinem minderjährigen Sohn, der Mord an dem Petersburger Photokünstler Arkadi Poggio, der Mord an der Fürstin Naina Telianowa und ihrem Dienstmädchen Jewdokia Syskina und schließlich Widerstand bei der Festnahme, was die schwere Verwundung zweier Polizisten zur Folge hatte, von denen einer inzwischen verstorben war. Der Staatsanwalt bat das Gericht, Bubenzow zu unbefristeter Zwangsarbeit zu verurteilen und seinen Komplizen Selig, der zweifellos von den Verbrechen seines Vorgesetzten gewusst hatte und sich der Verhaftung durch Flucht hatte entziehen wollen, zu einem Jahr Gefängnis mit anschließender Verbannung.
Berditschewski nahm wieder Platz, er war heiser, aber zufrieden mit sich. Ihm wurde schöner Beifall gespendet, sogar von den angereisten Juristen, was ein erfreuliches Zeichen war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen fragenden Blick auf den Bischof, der seinen Protege während des Plädoyers mehrfach durch ein Neigen des Kopfes und ein wohlwollendes Senken der Augenlider ermuntert hatte. Auch jetzt beantwortete er den Blick des Staatsanwalts mit einem billigenden Nicken. Ja, Berditschewskis Plädoyer war in der Tat gelungen.
Die Verhandlung wurde nach einer Pause fortgesetzt, die angereisten Rechtskundigen hatten sie genutzt, um den Fall zu erörtern. Die Mehrheit neigte zu der Ansicht, dass die Anklage vernünftig aufgebaut war und der hinterwäldlerische Staatsanwalt mit seinem Plädoyer dem Verteidiger eine harte Nuss zu knacken gegeben hatte. Doch Lomejko war nicht der Mann, der sich davon schrecken ließ, wahrscheinlich würde er mit seiner virtuosen Rhetorik brillieren und den Wortkünstler der Provinz in den Schatten stellen.
Aber das von allen anerkannte Genie des großen Anwalts bestand gerade darin, dass er die in ihn gelegten Erwartungen nicht erfüllte, sondern – übertraf.
Der Anfang seines Plädoyers war, gelinde gesagt, merkwürdig.