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Lomejko trat nach vorn und stellte sich so hin, dass er den Zuschauern den Rücken zuwandte, den Geschworenen die Seite, das Gesicht aber dem Gericht, was ganz ungewöhnlich war. Er breitete halb verlegen, halb verdrossen die Arme aus und verharrte eine ganze Weile in dieser wunderlichen Haltung, ohne ein Wort zu sagen.

Im Saal, der schon zur Ruhe gekommen war, wurde getuschelt, Stühle knarrten, aber der Verteidiger schwieg noch immer. Er hob erst an zu sprechen, als der Vorsitzende befremdet auf seinem Stuhl herumrutschte und im Saal wieder angespannte Stille eingetreten war.

»Ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, was ich zu dem Plädoyer des verehrten Anklägers sagen soll«, wandte sich Lomejko in leisem vertraulichem Ton an das Gericht und verkündete unvermittelt: »Wissen Sie, ich bin nämlich gar nicht so weit von hier aufgewachsen. Ich habe meine Kindheit am hiesigen Fluss verbracht. Ich habe diese Luft in mich eingesaugt, bin mit ihr groß geworden . . . Dann bin ich weggefahren, in ein lautes, geschäftiges Leben eingetaucht, aber, wissen Sie, meine Seele blieb immer dem Fluss verbunden. Ich sage ohne Pathos, was ich denke. Hier, inmitten dichter Wälder und bescheidener, unergiebiger Felder, schlägt das eigentliche Herz Russlands. Deshalb, meine Herren«, hier veränderte sich die Stimme des Redenden kaum merklich, gewann allmählich an Elastizität, Kraft und vielleicht auch unterschwelliger Drohung, »deshalb, meine Herren, macht es mich krank, wenn ich von Erscheinungen asiatischer Roheit erfahre, wie sie leider allzu oft in der tiefen russischen Provinz Vorkommen. Ich habe viel Gutes über Sawolshsk und die hier eingeführte Ordnung gehört, darum glaube ich aufrichtig, dass das hohe Gericht keinen Anlass geben wird, der Voreingenommenheit und des Lokalpatriotismus verdächtigt zu werden. Leider war es gerade dieser unappetitliche Geruch, der mir und den Gästen Ihrer Stadt aus den Äußerungen meines verehrten Opponenten entgegenschlug.«

Dieser Anfang machte die Richter einerseits wütend, andererseits nervös angesichts der in ihre Notizblöcke kritzelnden Reporter, der Zeitungszeichner und der unnachsichtigen Publizisten, die hier die öffentliche Meinung des unermesslichen Imperiums vertraten.

Der Anwalt aber hatte sich inzwischen von den Richtern abgewandt und fixierte nun die Geschworenen. Zu ihnen sprach er ganz schlicht und ohne jeden drohenden Unterton:

»Meine Herren, ich möchte ein übriges Mal auf das verweisen, was Sie natürlich auch ohne mich wissen. Heute findet das wichtigste Ereignis in Ihrem Leben als Bürger statt. Einen solchen Prozess hat es in Ihrer stillen Stadt noch nie gegeben und wird es hoffentlich nie wieder geben. Ich habe Sie lange mit Fragen gequält und etliche als Geschworene abgewiesen, aber ich tat es ausschließlich im Interesse der Rechtsprechung. Ich verstehe sehr wohl, dass Sie alle lebendige Menschen sind. Jeder hat sich wahrscheinlich schon seine Meinung gebildet, Sie haben mit Ihren Angehörigen, Freunden und Bekannten über die Umstände des Falls gesprochen . . . Ich bitte Sie inständig nur um eines.« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Verurteilen Sie die beiden Angeklagten nicht im Voraus. Sie sind ohnehin schon gegen sie eingenommen, weil Sie in ihnen die Verkörperung einer fremden und feindseligen Kraft sehen, deren Name Petersburg ist. Dieser Kraft begegnen Sie mit Argwohn und Misstrauen, häufig leider zu Recht. Ich räume ein, dass Bubenzow den einen oder anderen von Ihnen gekränkt oder erzürnt hat. Er ist ein komplizierter, unbequemer Mensch. Solche geraten immer in vertrackte Situationen – manchmal aus eigener Schuld, manchmal durch eine Laune des ungerechten Schicksals. Wenn das Gericht mir eine kurze Abschweifung von dem zu verhandelnden Fall erlaubt, werde ich Ihnen eine kleine Geschichte über Wladimir Bubenzow erzählen. Übrigens ist es gar keine Abschweifung, denn Sie haben über ein menschliches Schicksal zu befinden und müssen wissen, was für ein Mensch er ist. . .«

Der Verteidiger machte wieder eine Pause, als prüfe er, ob man ihm aufmerksam zuhörte. Man hörte ihm höchst aufmerksam zu – es herrschte völlige Stille, bis auf leises Stühleknarren.

»Vielleicht zeigt diese Geschichte meinen Klienten in einem noch ungünstigeren Licht, aber ich erzähle sie trotzdem, denn sie macht seinen Charakter sehr augenfällig . . . Also, mit fünfzehn Jahren verliebte sich Wladimir Bubenzow. Leidenschaftlich, besinnungslos, wie das in früher Jugend so ist. In wen, fragen Sie? Darin liegt eben die Unvernunft, denn die Herzensdame des jungen Pagen war eine Großfürstin, ich werde ihren Namen nicht nennen, denn sie ist jetzt die Gattin eines europäischen gekrönten Hauptes.«

Durch die Reihen der Journalisten ging ein Raunen – sie überlegten, von wem die Rede sein könnte, und hatten es wohl bald heraus.

»Wladimir Bubenzow schrieb Ihrer kaiserlichen Hoheit zuerst einen Liebesbrief, später wurde er nächtens unter dem Fenster ihres Schlafgemachs erwischt. Die Folge war ein äußerst unangenehmer Skandal. Um im Pagenkorps bleiben zu dürfen, sollte der Knabe seinen Vorgesetzten um Verzeihung bitten. Er weigerte sich strikt und wurde relegiert, damit war ihm der Weg zu einer glänzenden Hofkarriere verbaut. Ich habe diese lang zurückliegende Geschichte erwähnt, damit Sie die wesentliche Besonderheit im Charakter meines Mandanten besser verstehen. Er ist ein stolzer Mann, meine Herren, und daran ist nicht zu rütteln. Wenn gegen ihn ungeheuerliche, ja, absurde Beschuldigungen erhoben werden, verschmäht er es, sich zu rechtfertigen. Er schweigt stolz.«

Es ist anzunehmen, dass diese »kleine Geschichte« sich nicht so sehr an die Geschworenen richtete, größtenteils ältere und gesetzte Männer, sondern vor allem an die weibliche Hälfte des Publikums, deren Haltung bei solchen Prozessen gewöhnlich die Atmosphäre bestimmt. Die Frauen, die auch schon vorher Bubenzow mit gierigem Interesse betrachtet hatten, würdigten die Anekdote nach Gebühr, und ihre Neugier erfuhr eine gewisse Metamorphose – war sie zuvor überwiegend beklommen gewesen, so wurde sie jetzt überwiegend teilnahmsvoll.

Nachdem der geschickte Advokat diesen wichtigen, wenn auch unauffälligen Sieg errungen hatte, offenbarte er sogleich seine Schläue.

»Ach, wie schade, dass Vertreterinnen des schönen Geschlechts nicht als Geschworene zugelassen sind«, sagte er mit einem zutiefst aufrichtigen Seufzer. »Sie sind weitaus barmherziger als die Männer. Aber ich, meine Herren Geschworenen, bitte Sie keineswegs um Barmherzigkeit oder, Gott behüte, um Nachsicht für Wladimir Bubenzow.«

Es ergab sich von selbst, dass von dem zweiten Angeklagten kaum die Rede war. Entweder war der demutsvolle Selig für den Löwen der Anwaltschaft ohne Interesse, oder Lomejko ging davon aus, dass ein Freispruch der Hauptfigur ganz natürlich auch Seligs Haftentlassung nach sich ziehen würde.

»Ihre Nachsicht würde diesen stolzen Mann nur peinigen. Vor allem deshalb« (hier tönte die Stimme des Verteidigers plötzlich wie eine Bronzeglocke), »weil er Ihrer Nachsicht nicht bedarf!!«

Einige Geschworene runzelten bei diesen Worten die Brauen, Lomejko aber flog mit behenden Schritten zu dem langen Tisch, an dem die zwölf Volksvertreter saßen, und bat mit sanfter Stimme:

»Schonen Sie ihn nicht. Vergessen Sie nur Ihren Groll gegen ihn. Sie haben nicht über seinen schlechten Charakter zu urteilen, nicht über seine Ausschweifung und seinen Ehrgeiz, sondern über schreckliche, grauenhafte Verbrechen, die, das versichere ich Ihnen, Bubenzow nicht begangen hat. Was ich Ihnen im Folgenden beweisen werde.«

Es stellte sich heraus, dass alles Bisherige nur die Ouvertüre zur eigentlichen Verteidigung gewesen war. Die Zuhörer setzten sich raschelnd bequemer zurecht und machten sich auf ein langes Plädoyer gefasst, aber Lomejko trug seine Argumentation in weniger als einer Viertelstunde vor.

»Meine Herren, Sie haben das endlose Plädoyer des Anklägers gehört, das eher dem Geheul von Hamlets Vater glich als einem seriösen juristischen Diskurs.«