Im Umkreis des stellvertretenden Oberprokurors wurde beifällig gelacht.
»Ich habe gesehen, meine Herren, dass dieses Plädoyer Sie leider beeindruckt hat. Dabei war es ausschließlich auf billiger Effekthascherei aufgebaut. Das Fehlen von Beweisen wurde durch literarisch aufgeputzte Banalitäten und Vermutungen kaschiert, hinter denen nichts steht. Ich möchte niemanden kränken, aber das war ein Musterbeispiel für provinzielle Schwülstigkeit in ihrer schlimmsten Form. In Moskau oder Petersburg ist derartiges Geschwätz längst aus der Mode. Dort hätte man unseren Ankläger einfach ausgepfiffen, wie es eine miserable Schauspielerleistung auch verdient.«
Berditschewski lief rot an und wandte sich empört zu dem Vorsitzenden um, doch der machte ein ratloses Gesicht. Offenbar waren auch die Geschworenen verwirrt.
»Und nun zur Sache.« Der Zauberer wechselte erneut den Ton, der nun nicht mehr giftig und mitleidig war, sondern trocken und sachlich. Jetzt sprach ein pedantischer Gelehrter, der wissenschaftlich fundierte und jedem auch nur halbwegs verständigen Menschen einleuchtende Fakten vortrug. »Meine Herren, ich werde Ihnen erzählen, wie es wirklich war. Ich kannte die Wahrheit von Anfang an, habe aber meine Mandanten angewiesen, Stillschweigen zu bewahren, weil die hiesigen Ermittler nicht unparteiisch sind, weil sie nach Rache dürsten und sicherlich die Umstände des Falls verzerrt hätten, wie das die beamteten Rechtsverdreher seit eh und je in unserem leidgeprüften Russland so gern tun.«
Den Beifall, mit dem der liberale Teil des Publikums diese Bemerkung würdigte, ließ Lomejko völlig unbeachtet. Er wartete, bis er verebbt war, und fuhr fort:
»Nacht, eine öde Landstraße. Durch graue Wolken schimmert unheilverkündend der Mond, es riecht nach Regen, Wind heult. Zwei Menschen gehen die Straße entlang: ein bärtiger, mit kreisrund geschnittenem Haar, der andere noch ein Kind. Der Mann hält den Knaben umfasst, dieser lehnt das blonde Köpfchen an die Schulter des Vaters und schlummert im Gehen. Ringsum Stille – kein Mensch, keine Bewegung, nur aus dem Wald schallt das wehmütige Rufen einer Eule . . .«
Lomejko bedeckte die Augen mit der Hand, und es hatte den Anschein, dass sich seinem Blick lebendige Bilder boten, die er nur wiederzugeben brauchte.
»Plötzlich taucht am Straßenrand eine verschwommene Gestalt auf. Der Unbekannte hebt die Hand, als brauche er Hilfe. Arglos fragt der Kaufmann: ›Was willst du, guter Mann?‹ Und da stößt ihm der Unbekannte ein Messer in die Kehle, wirft ihn zu Boden und zieht die blutige Wunde von Ohr zu Ohr. Das Kind, vor Entsetzen versteinert, sieht weinend, wie sein Vater getötet wird. Dann steht der Unbekannte auf, packt den Knaben bei den schmalen Schultern, blickt ihm in die schreckgeweiteten Augen und stößt ihm die scharfe Klinge in den dünnen Hals. Das Flehen um Gnade geht über in ein Röcheln, ein Glucksen . . . Warten Sie, das ist noch nicht alles!«, rief der Advokat, an die hysterisch aufschluchzenden Zuhörerinnen gewandt. »Ich habe Ihnen noch nicht das schlimmste Grauen beschrieben – wie der Mörder die leblosen Körper zerstückelt, die Köpfe abtrennt. Wie die Wirbel knacken, wie eine Fontäne schwarzen Bluts hochschießt. . . Und nun sehen Sie Wladimir Lwowitsch an.« Eine abrupte Wendung, eine ausgestreckte Hand. »Und sagen Sie ehrlichen Gewissens, können Sie sich den ehemaligen Gardefähnrich, den Synodalinspektor in der Rolle eines solchen Schlächters vorstellen? Natürlich nicht! Jetzt zu dem Mord an dem Photokünstler Poggio. Zu welchen Mutmaßungen sich der Staatsanwalt auch verstiegen hat, es liegt doch völlig auf der Hand, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt. Herr Bubenzow hat geraume Zeit in Ihrer Stadt verbracht. Sie hatten Gelegenheit, seinen Charakter und seine Angewohnheiten zu studieren. Sie kennen seine gleich bleibende Kälte und sein blasiertes Gehaben, das auf viele so abstoßend gewirkt hat. Halten Sie es wirklich für vorstellbar, dass dieser beherrschte Verstandesmensch mit einem Stativ zum Schlag ausholt, dass er in blinder Raserei Photographien zerreißt und Glasplatten zertrampelt? Sehen Sie ihn genauer an! Er ist ein feingliedriger Mensch, nicht breit in den Schultern, von zartem Körperbau. Hätte er denn die Kraft besessen, mit dem schweren Stativ einen Stoß von derart satanischer Wucht zu führen?«
Nach diesem ersten wesentlichen Argument (das Bisherige war lediglich Psychologie gewesen) begab sich Lomejko wieder in die Gefilde der Gefühle und fuhr in demselben strengen und unsentimentalen Ton fort.
»Na schön, meine Herren, lassen wir die Argumente der Logik und des Verstands vorerst beiseite, und wenden wir uns dem Herzen zu, dem Instinkt, der uns nie im Stich lässt. Es kommt vor, dass uns der Verstand beharrlich einredet: Das ist schwarz, schwarz, und wir sind schon drauf und dran, es zu glauben, aber dann kommt das Herz plötzlich zu sich, schüttelt den Kopf« (das Bild vom Herzen, das den Kopf schüttelt, war etwas zweifelhaft, aber alle waren so von seiner Rede hingerissen, dass sie nicht darauf achteten) »und ruft: ›Aber wie kann es schwarz sein, wenn es doch weiß ist!‹ Ich wende mich an die Damen im Saal. Viele von Ihnen haben mit Bubenzow gescherzt, gelacht und, ich bitte um Vergebung, kokettiert. Sie haben mit ihm musiziert, sind zum Picknick gefahren und dergleichen mehr. Halten Sie es wirklich für möglich, dass dieser Verehrer weiblicher Schönheit fähig gewesen wäre, der Fürstin Telianowa mit einem Stein den Schädel einzuschlagen? Betrachten Sie doch nur diesen entsetzlichen, groben Gegenstand.« Lomejko zeigte auf den wuchtigen Pflasterstein, der auf dem Tisch mit den Beweisstücken lag. »Können Sie sich Wladimir Lwowitsch mit einer solchen Waffe in der Hand vorstellen?«
»Nein! Niemals!«, rief Olimpiada Saweljewna laut, und viele Damen pflichteten ihr glühend bei.
»Sie bezweifeln es«, konstatierte der Verteidiger. »Und Sie haben Recht, denn der Angeklagte hat nichts von alledem getan. Sie fragen, wer hat dann all die Unglücklichen getötet? Wer ist dieses Ungeheuer? Das will ich Ihnen gern sagen. Die Herren Ermittler haben vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen, doch für einen unvoreingenommenen Menschen ohne Scheuklappen ist der Fall völlig eindeutig.«
Der Verteidiger stemmte die Hände in die Seiten, reckte den Bart in die Höhe und holte zum entscheidenden Schlag aus:
»Ja, Bubenzow ist schuldig. Aber nicht des Mordes, sondern unverzeihlicher Blindheit. Wie übrigens zahlreiche der hier Anwesenden. Er vermochte nicht das wilde Ungeheuer zu durchschauen, das lange Zeit seine Gönnerschaft genoss. Ja, ja, Sie haben mich richtig verstanden. Der Mörder war in allen Fällen Murad Dshurajew, das ist völlig klar. Ihm hat es nichts ausgemacht, dem Kaufmann und seinem Sohn die Kehle durchzuschneiden. Und die fünfunddreißigtausend, die Wonifatjew bei sich hatte, waren für Dshurajew ungeheuer viel Geld. Er war an jenem Tag in Drosdowka, erfuhr von dem Verkauf des Waldes, und alles Weitere war sehr einfach. Ein Kutscher kann sich leichter unauffällig vom Haus entfernen als ein Gast, der noch dazu im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Und auch mit dem Abtrennen der Köpfe hatte dieser Baschi-Bosuk, wie Sie verstehen werden, keine Schwierigkeiten.«
Das war zweifellos ein Treffer. Die beste Bestätigung dafür war das Gewisper, das durch den Saal ging.
»Und nun erinnern wir uns an die Umstände des Todes von Poggio. In jener Nacht randalierte Dshurajew. Er zog durch die Schänken und Kneipen, tauchte bald da, bald dort auf. Seltsamerweise dachte niemand darüber nach, warum der Kaukasier, der sonst nie trank, plötzlich rotsah. Aber es ist wieder völlig klar. Wenn es in Dshurajew etwas Menschliches gab, dann war es seine hündische Ergebenheit gegenüber seinem Herrn. Er wusste, dass Bubenzow die Frau nicht mit Poggio teilen wollte. Die Kaukasier haben zu derartigen Konflikten ein völlig anderes Verhältnis als wir zynischen und übersättigten Europäer. Wir wollen auch nicht vergessen, dass aus Dshurajews Sicht Naina Telianowa keine Giaur war, sondern die Tochter eines kaukasischen Fürsten. Man muss annehmen, dass er die Wahl seines Herrn billigte – wohl mehr als der Herr selbst.« (Diese feine Bemerkung fand volle Zustimmung bei dem weiblichen Teil des Publikums.) »Herr Selig sagte mir, er habe dem Tscherkessen von dem Skandal auf der Vernissage erzählt, von Poggios Absicht, die Fürstin Telianowa in Schande zu bringen, indem er fatale Photographien zur allgemeinen Besichtigung ausstellte. Wer von Ihnen schon mal im Kaukasus war, kann ermessen, wie ehrverletzend ein derartiges Verhalten für ein Mädchen ist und für alle, die mit ihr durch verwandtschaftliche oder andere Bande verbunden sind. Die Frau, die der Tscherkesse für die würdige Braut seines Herrn hielt, wurde, ich bitte die Damen, das grobe Wort zu verzeihen, splitterfasernackt zur Schau gestellt, zur Belustigung des Publikums.«