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Es verging eine halbe Minute, eine Minute. Die juristische Koryphäe schwieg. Der Saal hielt den Atem an, denn alle fühlten, dass sich in diesen Augenblicken der Prozess entschied.

Da wandte sich Mitrofani zum erstenmal an den Angeklagten und fragte scharf:

»Und was sagen Sie darauf, Herr Verbrecher?«

Bubenzow fuhr hoch und öffnete den Mund, um zu antworten, aber in diesem Moment geschah etwas, das auch Mitrofani nicht voraussehen konnte.

»Aaaah!«, ertönte ein gellendes Geschrei, genauer, Geheul, und Tichon Selig, der bislang mucksmäuschenstill dagesessen hatte, so dass man ihn schon fast vergessen hatte, lief um die Barriere der Anklagebank herum zur Saalmitte.

Er plumpste auf die Knie, verneigte sich dreimal bis zum Boden vor dem Gericht, den Geschworenen und den Zuschauern und wurde von einem krampfhaften Schluchzen geschüttelt. Zwei Polizisten fassten ihn unter den Armen und versuchten ihn auf die Füße zu stellen, doch er wollte partout nicht aufstehen, so dass sie ihn zur Anklagebank zurückschleifen mussten.

»Sündig bin ich durch und durch!«, greinte der übergeschnappte Sekretär. »Weh mir Verruchtem!«

Der Richter läutete drohend das Glöckchen, und Selig verneigte sich wieder bußfertig.

»Euer Barmherzigkeit«, schluchzte er. »Lassen Sie mich ein aufrichtiges Wort sagen.«

Er wandte sich seinem Banknachbarn zu, faltete die Hände wie zum Gebet und rief:

»Bekennen Sie Ihre Schuld, Wladimir Lwowitsch! Vergeben Sie mir Schwachkopf, aber ich habe keine Kraft mehr. Viel Sünde haben wir beide auf uns geladen, oh, so viel! Seine Bischöfliche Gnaden haben die Wahrheit gesprochen von den bösen Menschen, genau das sind wir allzumal. Bei Gott dem Allmächtigen flehe ich Sie an, bereuen Sie!«

Die Polizisten mussten Bubenzow an den Schultern packen und konnten selbst zu zweit den wutbleichen Inspektor kaum festhalten, was aufs überzeugendste Mitrofanis Worte von der Kraft nervlicher Raserei bestätigte.

Der Bischof schritt hoheitsvoll zu seinem Platz. Ihm wurde nicht applaudiert, das wagte man nicht, doch die respektvolle Stille, die den Geistlichen begleitete, war triumphaler als jede Ovation.

»Sie möchten eine Aussage machen?«, fragte der Vorsitzende.

»Ja, das möchte ich!« Selig fuhr sich mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht. »Ganz und gar offenherzig! Ich will die Seele erleichtern!«

Er stand auf und hob mit zitternder Stimme an:

»Wahrlich, das Böse ist allüberall, und ich bin sein ruchloser Diener. Schuldig ist Wladimir Lwowitsch, Herr Bubenzow, an all diesen schrecklichen Morden, er hat getötet. Aber auch ich habe gefehlt und bin schuldig, sintemal ich geschwiegen, vertuscht und Vorschub geleistet habe – aus Schwäche und aus Angst um mein Leben!«

Bubenzow riss sich mit solcher Kraft los, dass die Polizisten zur Seite flogen, aber ihnen kamen noch zwei zu Hilfe, und zu viert zwangen sie den Tobenden auf den Platz zurück. Bewegen konnte er sich nicht mehr, aber er rief:

»Bist du verrückt geworden, Unterleibchen?«

»Da sehen Sie’s«, sagte Selig und flog am ganzen Leib. »Auch jetzt überfällt mich ein Zittern, wenn ich seine Stimme höre. Wahrlich, er ist der Satan. Voller Verlockung und Verführung. Ihm ist eine große Macht über Menschen gegeben. Und ich Wurm habe der Versuchung nicht widerstanden, als ich begriff, was für Fittiche ihn trugen. In diese friedliche Stadt ist er eingefallen, um sie in Staub, Asche und Stöhnen zu verwandeln – und alles zu seiner eigenen Erhebung. Er wollte zu den Gipfeln irdischer Macht aufsteigen, und dafür hätte er vor nichts Halt gemacht. Er sagte zu mir: ›Unterleibchen, halte dich an meinem Rockschoß fest und lass nicht los. Ich werde mich emporschwingen und dich mitnehmen.‹ Aber er sagte auch: ›Pass auf, Unterleibchen, wenn du dich gegen mich stellst, zerquetsche ich dich wie eine Laus.‹ Und er hätte mich zerquetscht, er ist so ein Mensch. Er hat mich benebelt und eingeschüchtert, hat mich verleitet, und ich wurde sein treuer Hund. Niedrig und gemein habe ich gehandelt, Sünde getan. Das Einzige, womit ich mich nicht besudelte, sind Mord und Totschlag, aber auch das nur wegen meiner schwachen Nerven . . .«

Selig konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen, so dass ihm der Gerichtsdiener Wasser geben musste. Als er sich etwas beruhigt hatte, fuhr er fort.

»Er machte noch Späße und spottete: ›Über einen Ehrgeizigen sagt man, dass er über Leichen geht, aber ich klettere wirklich über diese Leichen nach ganz oben.‹ Ich könnte noch viel darüber erzählen, wie er die unglücklichen Syten gequält und eingeschüchtert hat. Und ich hab’s ihm nachgetan, wollte mir seine Anerkennung verdienen . . . Und mit den Wonifatjews war es so. Wladimir Lwowitsch hat schreckliche Schulden, noch von früheren Zeiten her. Hier, in Sawolshsk, ist er einherstolziert wie ein Löwe, aber in Petersburg ist er eher wie ein Hase herumgehuscht, musste sich vor seinen Gläubigern verstecken. Das war auch seiner Karriere abträglich, der Oberprokuror persönlich hat ihn ins Gebet genommen, dass sich derlei nicht ziemt für einen Synodalbeamten. Und als wir nun bei der Generalswitwe in Drosdowka wohnten, kam das Gespräch auf den angereisten Kaufmann. Wladimir Lwowitsch nahm mich beiseite und flüsterte: ›Frag den Sytnikow, wie viel er für den Wald haben will.‹«

»Was lügst du da zusammen?«, rief Bubenzow außer sich vor Wut, und der Richter verwarnte ihn: Noch ein Wort, und er werde aus dem Saal geführt.

»Was soll ich jetzt noch lügen?« Selig blickte sich ängstlich nach seinem einstigen Gönner um. »Jetzt muss ich die Wahrheit sagen. So ist das. Wie er erfuhr, dass Wonifatjew dreißigtausend bekommen wird, vielleicht auch vierzigtausend, glühten seine Augen. Ich saß da und dachte mir nichts weiter dabei. Als Sytnikow nach dem Streit mit Wladimir Lwowitsch wegging, sagte der zu mir: ›Geh ihm nach und bitte ihn, mir nicht böse zu sein, und frage ihn auch gleich, ob er seinen Gast nicht herbringen will, wär doch interessant, sich so einen Wilden anzugucken.‹ Ich dachte, es geht ihm um die Sache, denn er wollte ja den Altgläubigen zu Leibe rücken. Erst später hatte er die Eingebung, sich die Heiden vorzunehmen. Also, ich komme zurück und berichte ihm: Nein, er bringt den Altgläubigen nicht her. Der Kaufmann will nach Abschluss des Handels gleich weiter, trotz der späten Stunde. Aha, sagt Wladimir Lwowitsch, er schien das Interesse verloren zu haben. Nachts klopfte ich an seine Tür, denn mir war da eine Idee gekommen, eine lästerliche Idee, was für eine, sage ich nicht, denn ich schäme mich, und es tut auch nichts zur Sache. Also, ich klopfte, klopfte, er machte nicht auf. Zuerst habe ich mich gewundert, alldieweil er einen leichten Schlaf hat. Aber dann dachte ich mir, dass er bestimmt bei dem Fräulein schläft.«

Selig wischte sich mit seiner Pranke die Stirn und trank einen Schluck Wasser.

»Und wie ich am Morgen zu ihm kam, sah ich, dass sein Havelock nass war, vor Tagesanbruch hatte es geregnet. Aber ich maß dem dazumal keine Bedeutung bei. Ein paar Tage vergingen, die Leichen ohne Kopf wurden gefunden, und Wladimir Lwowitsch hat sofort vom Opferritual der Syten geredet. Er kannte sich mit ihrer Religion und ihren Sitten so gut aus, dass ich nur gestaunt habe. Und natürlich hab ich mich auch gefreut. Das kam ja unserm Auftrag entgegen . . .«

Der Redende stockte.

»Nein, ich will hier nicht heucheln. Es soll wie bei der Beichte sein. An mir nagte der Wurm des Zweifels, von Anfang an. Es läuft alles zu glatt, habe ich mir gedacht. Als ob uns der Beelzebub in die Hand spielt. . . Dass Wladimir Lwowitsch den Leichen selber die Köpfe abgeschnitten haben könnte, ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen. Aber nun hat sich eins zum andern gefügt, und ich musste an Sytnikow denken, an das leere Zimmer und den nassen Havelock . . . Auch das mit dem Photokünstler ist jetzt verständlich. Deshalb hat er Murad betrunken gemacht, niemand sonst. Damit ich ihm nicht im Wege bin, sondern die ganze Nacht wie ein Hündchen hinter dem Murad herlaufe, von einer Kneipe in die andre. Ich glaube, Wladimir Lwowitsch hatte schon damals den Hintergedanken, im Falle eines Falles die Morde auf Murad abzuwälzen. Weshalb sonst benutzte er das Stativ?« Selig zeigte auf das Beweisstück. »Es wäre ja auch einfacher gegangen. Wladimir Lwowitsch ist sehr kräftig, er sieht nur so mickrig aus, ist aber ganz muskulös, und wenn er in Rage gerät, verhüte Gott, dass man ihm da in die Hände fällt. . . Zu guter Letzt hat er sich vor mir überhaupt nicht mehr geniert. Als ihm die Gräfin Telianowa bei dem Untersuchungsexperiment offen drohte, war er finster wie eine Gewitterwolke. Er ging im Zimmer auf und ab und grübelte, dann sagte er plötzlich: ›Ich geh jetzt in die Nacht hinaus. Wenn jemand nach mir fragt, sag ihm, ich hätte mich schlafen gelegt.‹ Er kam erst gegen Morgen zurück. Ganz durchnässt und schmutzig . . .«