Vorsitzender: Das klingt alles sehr glaubhaft. Aber woraus schließen Sie, dass Selig der Mörder ist?
Lissizyna: Er gab hier an, dass er Sytnikow nach dem Kaufmann ausgefragt hatte. Nur von ihm wissen wir, dass er in Bubenzows Auftrag handelte. Und außerdem, Bubenzow steckt zwar bis über die Ohren in Schulden, aber mit den fünfunddreißigtausend wäre er nicht weit gekommen. In der Stadt wird erzählt, dass seine Schulden in die Hunderttausende gehen. Hätte er sich wegen einer für seine Begriffe so geringfügigen Summe etwa die Hände schmutzig gemacht? Anders Selig. Für ihn sind fünfunddreißigtausend ein Vermögen. Doch außer Bereicherung verfolgte er noch ein anderes Zieclass="underline" Er wollte seinem Gönner bei der Karriere behilflich sein und zusammen mit ihm die Leiter hochklettern. So schnitt er die Köpfe nicht nur ab, um die Spuren zu verwischen, sondern verknüpfte damit weiter reichende Pläne. Vielleicht hat er Bubenzow erst auf die Idee gebracht, die kopflosen Leichen gegen die Syten zu verwenden. (Erregung im Saal) Selig ist ein vorausschauender Mensch. Bevor er ein Verbrechen beging, traf er jedes Mal Vorsichtsmaßregeln. Als er sich auf den Weg machte, um die Wonifatjews zu töten, trug er für alle Fälle den Havelock und die Schirmmütze seines Chefs. Er könnte ja gesehen werden. Und er wurde gesehen! Und ganz sicher war es Selig, der in der Nacht, in der Poggio ermordet wurde, Dshurajew betrunken machte. Es war für ihn ein Leichtes, sich für ein Stündchen zu entfernen, während der Tscherkesse in der nächsten Kneipe trank.
Vorsitzender: ›Es war für ihn ein Leichtes‹ ist aber kein Beweis.
Lissizyna: Sie haben Recht, Euer Ehren. Aber wenn Sie mir erlauben . . . (geht zum Tisch mit den Beweisstücken und nimmt das Photostativ; tritt zu Bubenzow) Wladimir Lwowitsch, bitte strecken Sie die Hände vor. (Der Angeklagte Bubenzow sitzt unbeweglich und blickt die Nonne an. Dann streckt er die gefesselten Hände über die Barriere.) Versuchen Sie, das Stativ mit den Fingern zu umfassen. Sehen Sie, meine Herren? Er hat zu kleine Hände. Er hätte das schwere Stativ einfach nicht fest genug halten können, um einen Stoß von solcher Gewalt zu führen. Daraus folgt, dass er Poggio nicht getötet hat.
Tumult im Saal. Rufe: ›Das stimmt!‹, ›Tüchtig, die Nonne!‹ und dergleichen. Der Vorsitzende läutet das Glöckchen.
Lissizyna: Erlauben Sie mir noch eine Demonstration. (tritt mit dem Stativ zu dem Angeklagten Selig) Nun probieren Sie es, Tichon Jeremejewitsch.
Selig versteckt die Hände, die bislang auf dem Geländer der Barriere lagen, rasch hinter dem Rücken. Viele im Saal springen auf. Der Vorsitzende läutet das Glöckchen.
Lissizyna: Das Stativ ist so kompakt, dass ein gewöhnlicher Mann es nicht zu umfassen vermag, Herr Selig jedoch hat außergewöhnlich große Hände. Ihm macht das keine Schwierigkeit . . . Ich habe noch eine Bitte an das Gericht. Wäre es möglich, bei Herrn Selig eine Leibesuntersuchung vorzunehmen? Vor allem seine rechte Hüfte und den Oberschenkel genau zu betrachten. Als mir in Drosdowka im Park jemand einen Sack über den Kopf warf, habe ich den Angreifer zweimal mit meinen Stricknadeln ins Bein gestochen. Ziemlich tief. Die vier Einstiche müssen noch zu sehen sein.
Selig (springt auf und krächzt): Hexe! Hexe!
Der schwarze Mönch
Nachdem Schwester Pelagia gesprochen hatte, wurde die Verhandlung fortgesetzt, aber der Ausgang stand fest, und die Aufmerksamkeit des Publikums irrte ab. Selig wurde zur Leibesuntersuchung hinausgeführt, und richtig – er hatte auf der rechten Hüfte vier rosa Punkte. Es kam zwischen den Parteien nicht zu Diskussionen, denn der Staatsanwalt war von den jähen Wendungen etwas abgestumpft, und der Verteidiger sah recht zufrieden aus: Um seinen Mandanten stand es nicht schlecht, und für das Schicksal Seligs fühlte er sich nicht verantwortlich.
So seltsam es ist, aber Selig begann nicht zu weinen und zu winseln. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, die Morde begangen zu haben, schüttelte er nur den Kopf. Er saß mit unbewegtem Gesicht, hielt die Augen halb geschlossen und schien weder die Frage des Richters noch die Antwort der Geschworenen, noch das Urteil zu hören. Sein runzliges Gesichtchen hatte sich geglättet und sogar eine gewisse Bedeutsamkeit gewonnen. Bubenzow hingegen wirkte ausgesprochen nervös; er rutschte auf seinem Platz hin und her, blickte bald zu seinem Sekretär, bald mit gerecktem Hals zu Schwester Pelagia, und sein Gesicht hatte einen verdutzten, ja, dümmlichen Ausdruck. Die Nonne saß da, ohne bis zum Ende der Verhandlung ein einziges Mal die Augen zu heben, so dass sie Bubenzows Verhalten wahrscheinlich gar nicht wahrnahm.
Das Urteil verwunderte niemanden. Tichon Selig, der sich nicht schuldig bekannt und das geraubte Geld nicht zurückgegeben hatte, wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Bubenzow wurde freigesprochen, und schon eine Stunde später verließ er unsere Gouvernementshauptstadt, in den Augen der meisten mit Schande bedeckt, von einigen Frauen insgeheim beweint.
Nach und nach kam Sawolshsk wieder zur Ruhe, so, als wäre ein Stein in einen Teich gefallen und hätte das Wasser aufgewühlt. Spritzer schossen auf, Wellen zogen Kreise, aber bald verebbten sie, das Wasser besänftigte und glättete sich, und der Teich schlief wieder ein, obwohl noch klingende Bläschen an die Oberfläche stiegen.
Ljudmila von Gaggenau erschien nach langer Zeit beim Bischof zur Beichte. Verweint ging sie von ihm weg, mit geröteten, aber klaren Augen. Danach hatte Mitrofani auch ein längeres Gespräch mit dem Gouverneur, dem er zu verstehen gab, dass er keinen Grund habe, sich zu beunruhigen. Zwar hatte der Geistliche nicht das Beichtgeheimnis verletzt und auch mehr in Andeutungen gesprochen, dennoch erlegte er sich hinterher eine strenge Kirchenbuße auf.
Berditschewski bat den Gouverneur um Nachsicht für den Polizeimeister Lagrange, erhielt aber eine Absage. Damit hätte er seine Dankespflicht als erfüllt ansehen können, doch er ging auch noch zum Bischof, ohne jede Hoffnung, einzig zur Beruhigung seines Gewissens. Mitrofani nahm die Fürsprache erstaunlicherweise mit Verständnis auf und sagte: »Man muss Lagrange nicht vor Gericht stellen. Auch nicht aus dem Dienst jagen. Ich denke, er ist kein verlorener Mensch. Er hätte es ja auch sehr einfach so arrangieren können, dass Murad dich umgebracht hätte, dann wäre er aus allem heraus gewesen. Richte ihm aus, dass ich mit dem Gouverneur rede.« Der Polizeimeister blieb im Amt und geht nun auch zum Bischof zur Beichte.
Doch noch früher, direkt am Prozesstag, kam es zu einem Vorfall, der gesondert erwähnt werden muss.
Als die Geschworenen sich zur Beratung zurückgezogen hatten und im Saal alle auf einmal losredeten, um ihre Eindrücke vom Prozess und ihre Vermutungen über den Urteilsspruch auszutauschen, meinte der Bischof es seiner Würde schuldig zu sein, sich dem Geschnatter zu entziehen, und suchte auf Einladung des Richters das Zimmer für Ehrengäste auf. Er bedeutete Schwester Pelagia, ihm zu folgen. Verdrossen schritt er durch den Korridor, blickte auf seine Füße und stieß den Bischofsstab zornig auf den Boden.
Als sie unter vier Augen waren, küsste die Nonne dem Geistlichen schuldbewusst die Hand und sagte etwas konfus:
»Ihr habt Recht, Vater, Bubenzow ist ein böser Mensch und eine Ausgeburt der Hölle. Jetzt kommt er frei, und obwohl seine synodale Karriere beendet ist, wird er noch viel Böses tun. Er besitzt eine große Kraft. Er wird seine Wunden lecken und von neuem Hass und Kummer säen. Aber man kann doch nicht Unrecht mit Unrecht ausrotten! Ich habe erst im allerletzten Moment begriffen, wie es wirklich war, sonst hätte ich unbedingt Euren Segen für meinen Auftritt erbeten. Genauer, ich hätte Euch gebeten, als Zeuge zu sprechen. Aber es war keine Zeit mehr, der Richter war schon im Begriff, sich an die Geschworenen zu wenden. Darum habe ich gesprochen. Nun ist es so gekommen, dass ich Euch vor aller Öffentlichkeit in ein ungünstiges Licht gestellt habe. Könnt Ihr mir verzeihen?«