»Was ist das, Pachom Sergejewitsch, ein Ertrunkener?« fragte Pelagia, nachdem sie gegrüßt und die Persenning für alle Fälle bekreuzigt hatte.
»Nein, Mütterchen, schlimmer«, antwortete der Polizeichef mit undurchsichtiger Miene und wischte sich mit einem Tuch die himbeerrote Glatze. »Der Fluss hat zwei Tote an Land gespült. Ohne Kopf. Einen Mann und einen Knaben. Da auf dem Sand haben sie nebeneinander gelegen. So ist das. Es wird eine Untersuchung geben. Ich bringe die beiden jetzt ins Gouvernement zur Identifizierung. Bloß wie das gehen soll, weiß der Teufel. Bitte um Vergebung, es ist mir so rausgerutscht.«
Pelagia schüttelte den »Teufel« von der Schulter, damit er dort nicht kleben blieb, und bekreuzigte nunmehr sich selbst.
»Die sind nicht von hier«, sagte einer aus der Menge »Bei uns hat’s solche Untat noch nie gegeben.« |
»Ja«, bestätigte ein anderer. »Es muss sie wohl von Nischni Nowgorod her angeschwemmt haben, dort pas
siert alles Mögliche.«
Diese Meinung fand allgemeinen Beifall, denn die Sawolshsker mochten die Nishni Nowgoroder nicht, sie hielten sie für ein diebisches und nichtsnutziges Völkchen.
»Euer Wohlgeboren, lasse uns mal sie anschauen, vielleicht erkennen wir sie ja«, bat ein solid aussehender bärtiger Mann, der einen guten Rock trug, würdevoll, und man sah ihm an, dass er nicht aus müßiger Neugier fragte, nur um Leichen zu begaffen.
Seine Bitte wurde von mehreren unterstützt, und die Weiber ächzten zwar, doch wohl mehr aus Anstand.
Der Polizeichef setzte die Schirmmütze auf, überlegte und nickte Gewährung.
»Warum nicht, ich zeige sie euch. Womöglich wisst ihr wirklich was . . .«
Er zog die Persenning weg, und Pelagia wandte sich sofort ab, denn die Leichname waren splitternackt, und es schickte sich nicht für eine Nonne, so etwas anzuschauen. Sie hatte aber gerade noch gesehen, dass der linke Arm des Großen, Behaarten da, wo die Hand sein sollte, in einem Stumpf endete.
»O Gott, das Jungchen ist noch ganz klein«, wehklagte eines der Weiber. »So wie mein Afonka.«
Pelagia sah nicht mehr hin, denn Kirchenbuße ist Kirchenbuße, und schlug den Feldweg nach Drosdowka ein.
Es war schwül geworden, und von der Erde stieg ein Wabern auf wie an heißen Tagen, bevor es regnet. Pelagia beschleunigte den Schritt und blickte immer wieder zum Himmel auf, wo eine runde pralle Wolke dahinrollte und rasch anschwoll. Vorn kam die Parkmauer in Sicht, und über den Bäumen schimmerte grün das Dach eines großen Hauses, aber es war noch ein Stück bis dorthin.
Macht nichts, ich weiche schon nicht durch, sagte sich die Nonne, aber ihre gute Stimmung war verflogen. Ein unwürdiges Gefühl bemächtigte sich ihrer – Neid. Das ist ein richtiger Fall, dachte sie, wie gewichtig hat doch Pachom Sergejewitsch das saftige Wort »Untersuchung« ausgesprochen.
Der eine darf ein furchtbares Geheimnis aufklären, und der andere soll herausfinden, woran die Bulldogge der Tante verreckt ist. Eine schöne Kirchenbuße hatte ihr der Bischof auferlegt!
Gewitterwolken über Sawolshsk
Während Schwester Pelagia unter dem rasch dunkelnden Himmel auf das Eisentor des Parks von Drosdowka zugeht, machen wir eine Abschweifung, um etliche Geheimnisse unserer Gouvernementpolitik zu erläutern und Personen vorzustellen, die in dieser dunklen und verworrenen Geschichte eine Schlüsselrolle zu spielen haben.
Wie schon gesagt, das Gouvernement Sawolshsk dehnt sich weit aus, liegt aber abseits der Zentralgewalt und wird seit alters mit sehr wenig Aufmerksamkeit seitens der höheren Sphären bedacht. Es gab in Sawolshsk nichts Wünschenswertes für diese Sphären, nur Wälder, Flüsse, Seen und insbesondere viele Sümpfe, so dass in den Jahren der Wirren (Dynastische Krise in Russland Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts, verbunden mit inneren Unruhen und außenpolitischen Bedrohungen. D.U) in den Morasten ein ganzer polnischer Wagentross versank, den der Thronräuber Dmitri ausgesandt hatte, um den Goldenen Berg zu suchen.
Einöde, Abgeschiedenheit, Bärenwinkel. Die hiesigen Bewohner ähnelten auch zum Teil Bären, plump und zottig, wie sie waren. Die gewandten Nishni Nowgoroder und die flinken Kostromaer haben sich einen dummen Spruch ausgedacht: Die Sawolshsker haben Blei in den Knochen. Nun, die Sawolshsker mögen in der Tat Hast und Hektik nicht, denken nicht eben flink und werden das Perpetuum mobile kaum erfinden. Obwohl, wer weiß. Vor etlichen Jahren hat im Kirchdorf Rytschalowka, hundertzwanzig Werst von Sawolshsk, ein Küster sich ein Hebezeug ausgedacht, um leichter auf den Glockenturm zu kommen. Er mochte nicht mehr tagaus, tagein achtzig steile Stufen rauf – und runtersteigen. Darum hängte er einen Stuhl mit Lehne an ein verlängertes Pferdegeschirr, verband es mit Hebeln und Antriebsrädern, und was meint ihr – er war in zwei Minuten oben. Der Bischof persönlich reiste an, um das Wunder zu bestaunen. Kopfschüttelnd fuhr er ein – oder zweimal mit dem Wunderstuhl auf und ab, dann befahl er, die Konstruktion wieder abzubauen, denn die Glocke müsse in Demut geläutet werden, unter ehrfürchtigem Keuchen, auch führe so et was die Kinder in Versuchung. Den Küster aber schickte Mitrofani nach Moskau, damit er dort Mechanik studiere, und setzte an dessen Stelle einen Mann mit schlichterem Gemüt. Doch dieses Aufblitzen eines urwüchsigen Genies ist eher die Ausnahme. Wir gestehen offen, dass die Sawolshsker insgesamt schwer von Begriff sind und gegen alles Neue Argwohn hegen.
Auch der derzeitige Gouverneur, Anton Antonowitsch von Gaggenau, wurde bei uns anfangs mit Misstrauen aufgenommen, da er, durchdrungen vom Geist segensreicher Reformen, das ihm anvertraute Gebiet von den Füßen auf den Kopf stellen wollte, jedoch versicherte, er werde es vom Kopf auf die Füße stellen. Doch Gott der Herr bewahrte die Sawolshsker vor übermäßigen Erschütterungen. Der junge Reformer geriet unter den Einfluss Mitrofanis, bezwang seine Hoffart und mäßigte sich, insbesondere nachdem er mit bischöflichem Segen die begeh-renswerteste der hiesigen Bräute geehelicht hatte. Dazu hatte er freilich vom lutheranischen zum orthodoxen Glauben übertreten müssen, und sein geistlicher Vater war niemand anders als der Bischof. Baron von Gaggenau hat sich bei uns so gut eingelebt, dass er, als er für seine beispielhafte Verwaltung des Gouvernements in ein hauptstädtisches Ministerium berufen wurde, dies ablehnte, weil es ihm hier besser gefiel. Er war ein Deutscher, aber ganz aus der Art geschlagen. Früher pflegte er abends aus einem Porzellantässchen Glühwein zu trinken und für sich selbst das Violoncello zu spielen, doch mittlerweile hat er am Moosbeerenschnaps Geschmack gefunden, badet am Dreikönigsfest in einem Eisloch und bleibt hinterher mindestens drei Stunden lang im Schwitzbad.
Und wie es sich für einen richtigen russischen Mann gehört, steht der Gouverneur unterm Pantoffel seiner Frau.
Aber bei einer Person wie Ljudmila Platonowna unterm Pantoffel zu stehen ist angenehm und erfreulich, eine solche Sklaverei erträumen viele. Sie ist eine geborene Tscheremissowa, entstammt also der allerersten Kaufmannsfamilie von Sawolshsk, der schon von Peter dem Großen die Grafenwürde verliehen wurde. Als junges Mädchen war Ljudmila schlank und rank gewesen, doch nachdem sie vier kleine Barone zur Welt gebracht hatte, änderte sich ihre Gestalt und gewann eine dem Blick wohltuende Üppigkeit, die ihre Schönheit noch deutlicher zur Geltung brachte. Mit ihren hellen Augen, rosigen Wangen und vollen Armen wurde die Baronin jenseits der dreißig zum Ideal russischer Frauenschönheit, zu der sich hagere und kahlköpfige Deutsche (Anton von Gaggenau war solch einer) von alters her seelisch und körperlich hingezogen fühlen. Ljudmila erkannte ihre Macht über ihren Gatten sehr bald und machte nach Gutdünken davon Gebrauch, aber dem Gouvernement hat das bislang in keiner Weise geschadet, weil die herzensgute und feinfühlige Frau alle ihre Kräfte für wohltätige und gottgefällige Werke einsetzte, so dass selbst der Bischof ihren Einfluss auf den Gatten als nützlich empfand. Im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen freilich sah sich Mitrofani genötigt, sein Urteil über die weibliche Vorherrschaft zu revidieren, aber davon später.