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Der wohl einzige Mensch (natürlich mit Ausnahme des Bischofs, dessen Autorität Ljudmila nie in Frage stellte), dessen Einfluss sie trotz aller Bemühungen nicht eindämmen konnte, war der bevollmächtigte Berater des Barons, Matwej Benzionowitsch Berditschewski, der das Amt des stellvertretenden Staatsanwalts beim Gerichtshof bekleidete. Die Geschichte dieses Beamten ist ungewöhnlich und verdient es, etwas ausführlicher erzählt zu werden.

Der einstige Jude Matwej Berditschewski war, wie der Gouverneur, ein Taufsohn Mitrofanis. Bis zu seinem Übertritt zur rechtgläubigen Kirche hatte er den missklingenden Vornamen Mordechai getragen, welchen noch immer schadenfroh seine Feinde benutzen, natürlich nur hinter seinem Rücken, denn seine Nähe zur Macht ist allen wohl bewusst. Der spätere Liebling des Gouverneurs entstammte einer heruntergekommenen Familie, war aber schon als Kind verwaist und, wie seit einiger Zeit bei uns üblich, auf Staatskosten zunächst in die Vierklassenschule und dann wegen seiner außerordentlichen Fähigkeiten ins Gymnasium aufgenommen worden. Mitrofani war schon früh auf den begabten Jungen aufmerksam geworden und schickte ihn nach Abschluss des Gymnasiums auf die Universität Sankt Petersburg. Berditschewski behauptete sich auch in der Metropole, er schloss das Studium in kürzester Zeit mit einem ausgezeichneten Diplom ab und erhielt das Recht, seine Dienststelle frei zu wählen, und sei es im Ministerium der Justiz, doch er gab Sawolshsk den Vorzug. Und wirklich, der kluge Mann hatte recht gehandelt. Was wäre er in Petersburg gewesen? Ein Provinzler, ein Plebejer jüdischer Herkunft, was bekanntlich noch schlimmer ist als ganz ohne Herkunft zu sein. Bei uns aber wurde er freundlich aufgenommen. Er bekam eine gute Stelle und wurde mit einer fabelhaften Braut verheiratet. Mitrofani pflegte zu sagen, die Ehefrau mache den Mann, und erklärte seinen Gedanken anschaulich mit Hilfe einer mathematischen Allegorie: Der Mann sei eine Eins, die Frau eine Null. Wenn jedes für sich lebe, sei der Wert des Mannes gering, und die Frau habe gar keinen, doch wenn sie die Ehe eingingen, entstehe eine neue Zahl. Eine gute Frau stelle sich hinter die Eins und verzehnfache ihre Kraft. Eine schlechte aber dränge sich vor die Eins und schwäche entsprechend den Mann, indem sie ein Zehntel daraus mache.

Für Matwej Berditschewski hatte der Bischof ein gutes und häusliches Mädchen aus der Familie eines Offiziers ausgesucht. Sie lebten in Liebe und Eintracht, und sie waren so fruchtbar, dass sie in den ersten zehn Jahren ihrer Ehe, die zum Zeitpunkt unserer Erzählung gerade herum waren, schon zwölf Nachfahren beiderlei (doch überwiegend weiblichen) Geschlechts zur Welt gebracht hatten.

Wenn es Berditschewkis Wunsch gewesen wäre, hätte er auch ein anderes, angeseheneres Amt bekleiden können, und sei es das des Vorsitzenden des Gerichtshofs, aber sein Charakter und seine angeborene Schüchternheit ließen ihn lieber im Schatten bleiben; die Macht beriet er nicht in der Behörde und nicht im Areopag, sondern lieber privatim, beim Tee oder bei einem Preferencespiel, das er sehr liebte. Als Ankläger in Prozessen trat er auch nicht gern in Erscheinung, er berief sich auf seine näselnde Stimme und sein unglückliches Aussehen. Schön war er in der Tat nicht – krumme Nase, zappelig, die eine Schulter deutlich höher als die andere. Sein nomineller Vorgesetzter, der Gouvernementstaatsanwalt Silesius, ein äußerlich repräsentabler, aber stockdummer Mann, trug vor Gericht die von Berditschewski ausgearbeiteten Plädoyers vor und erntete nicht selten stürmischen Beifall, während Berditschewski nur seufzte und ihn beneidete.

Seine Stellung als graue Eminenz beruhte auf den beiden Sawolshsker Säulen – dem Bischof und dem Gouverneur. Die dritte Säule, die schöne Ljudmila, konnte den spitzfindigen Juden nicht leiden. Aber die Spannung zwischen Berditschewski und der Baronin war keine wütende Feindschaft, sondern eher eine eifersüchtige Rivalität, so dass am Vergebungssonntag beide Seiten einander ihre Reue aussprachen und einander reinen Herzens vergaben, was ein Fortbestehen der Rivalität nach Ostern keineswegs ausschloss.

Doch o weh, diese idyllische Konstellation ging zu Ende, als am friedlichen Sawolshsker Horizont eine drohende Gewitterwolke erschien. Ein kalter Westwind trieb sie von dem heimtückischen, bösartigen Petersburg heran.

Eines Abends vor drei Wochen hatte der Polizist, der ordnungshalber bei der Einfahrt in die Stadt wacht und nach alter Gewohnheit bei uns »Wächter« genannt wird, eine Vision. Am fernen Ende der Moskauer Heerstraße zeigte sich ein Staubwölkchen, das ungewöhnlich schnell auf Sawolshsk zukam. Bald darauf vernahm der Wächter abgerissene kehlige Laute von unchristlichem Klang und wollte sich schon bekreuzigen, ließ es aber aus Trägheit. Alsbald löste sich aus der Staubkugel, welche auf der Chaussee heranraste, ein Paar schaumbedeckter Rappen mit herausquellenden irren Augen. Über ihnen schwang ein schwarzbärtiger Räuber die pfeifende Peitsche, er trug eine zottige Papacha und einen geflickten Tscherkessenrock, stieß Adlerschreie aus und rollte wild mit den Augen, die so blutunterlaufen waren wie die der Pferde. Bei diesem Anblick riss der Wächter den Mund auf und fragte nicht einmal nach dem Reiseschein. Durch das Fensterchen der Kutsche sah er einen würdigen grauhaarigen Mann, der ihm gnädig zunickte, und im Hintergrund des Wagens undeutlich einen zweiten mit spitznasigem Profil und beängstigend funkelnden Augen. Die Kutsche polterte dröhnend über das Pflaster, überquerte den Kirchplatz und bog in den Torweg des ersten Hauses am Platze, des Hotels »Zum Großfürsten«, ein. Des weiteren wird erzählt, dass in dem Moment, da die Kutsche an der bischöflichen Klosterkirche vorbeisauste, eine Erscheinung zu sehen war: Ein Rabenschwarm kam geflogen und verscheuchte von den Kreuzen der Kirche die Tauben, die diesen erhöhten Punkt seit undenklichen Zeiten als ihren althergebrachten Besitz ansahen. Aber dieser Rabenüberfall war sicherlich frei erfunden, denn in unserer Stadt lügt man gern und einfallsreich.

Tags darauf hatte sich herumgesprochen, dass ein Revisor vom Synod in der Stadt eingetroffen sei, ein Beamter für Sonderaufträge beim Oberprokuror Pobedin, der im russischen Imperium nur beim Vor – und Vatersnamen benannt wurde. Es hieß: »Konstantin Petrowitsch hat gestern dem Zaren Hinweise gegeben« oder etwa: »Konstantin Petrowitsch ist auf dem Wege der Besserung«, und niemand fragte, wer dieser Konstantin Petrowitsch sei – es war auch so klar.

Politisch wohl unterrichtete Leute erklärten sogleich im Brustton der Überzeugung, Konstantin Petrowitsch sei mit dem Gouvernement unzufrieden, und dem Bischof wie auch dem Gouverneur Anton von Gaggenau drohten große Unannehmlichkeiten. Sie wussten auch den Grund: Die Sawolshsker Regenten seien nicht eifrig genug bei der Ausrottung anderer Glaubensrichtungen und bei der Verbreitung der Orthodoxie.

Auch über die Person des Revisors wurde einiges bekannt. Unsere Stadt liegt zwar weit entfernt von den Hauptstädten, dennoch leben wir nicht hinter dem Mond. Wir haben eine vornehme Gesellschaft, unsere Aristokratie bringt ihre Töchter in der Ballsaison nach Petersburg, und sie korrespondiert mit Bekannten. Somit erfahren wir in Sawolshsk von allen bemerkenswerten und interessanten Ereignissen in der großen Welt.