Chiron fuhr herum und machte ein beleidigtes Gesicht. »Wie bitte?«
Annabeth fiel ihm um den Hals. »Chiron, was ist los? Sie wollen doch nicht … gehen?«
Ihre Stimme zitterte. Chiron war für sie wie ein zweiter Vater.
Chiron fuhr ihr durch die Haare und lächelte sie freundlich an. »Hallo, Kind. Und Percy, meine Güte. Du bist in diesem Jahr aber gewachsen!«
Ich schluckte. »Clarisse sagt, Sie … Sie seien …«
»Gefeuert worden.« Chirons Augen funkelten sarkastisch. »Ach, egal. Irgendwem mussten sie die Schuld doch zuschieben. Der Herr Zeus war wirklich außer sich. Der Baum, den er aus dem Geist seiner Tochter erschaffen hat – vergiftet! Da musste Mr D doch irgendwen bestrafen.«
»Nur sich selbst nicht, meinen Sie«, knurrte ich. Beim bloßen Gedanken an Campdirektor D wurde ich schon sauer.
»Aber das ist doch Wahnsinn!«, rief Annabeth. »Chiron, Sie können doch Thalias Baum nicht vergiftet haben!«
»Trotzdem«, seufzte Chiron, »irgendwer im Olymp misstraut mir unter den derzeitigen Umständen.«
»Was denn für Umstände?«, fragte ich.
Chirons Gesicht verdüsterte sich. Er stopfte ein lateinisch-englisches Wörterbuch in seine Satteltaschen, während weiter Frank-Sinatra-Musik aus seinem Ghettoblaster quoll.
Tyson starrte Chiron noch immer verdutzt an. Er fiepte und hätte offenbar gern Chirons Flanke gestreichelt, wagte sich aber nicht an ihn heran. »Pony?«
Chiron schnaubte beleidigt. »Mein lieber junger Zyklop! Ich bin ein Zentaur!«
»Chiron«, sagte ich. »Was ist mit dem Baum? Was ist passiert?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Das Gift, an dem Thalias Fichte krankt, kommt aus der Unterwelt, Percy. Ich habe dieses Gift noch nie gesehen. Es muss von einem Ungeheuer in den Tiefen des Tartarus stammen.«
»Dann wissen wir, wer dahintersteckt. Kro…«
»Erwähne den Namen des Titanenherrn nicht, Percy. Schon gar nicht hier und jetzt.«
»Aber im vergangenen Sommer hat er versucht, im Olymp einen Bürgerkrieg auszulösen. Er muss einfach dahinterstecken. Bestimmt hat er Luke angestiftet, diesen Verräter.«
»Mag sein«, sagte Chiron. »Aber ich fürchte, ich werde verantwortlich gemacht, weil ich es nicht verhindert habe und weil ich den Baum nicht retten kann. Es bleiben ihm nur noch wenige Wochen, es sei denn …«
»Es sei denn?«, fragte Annabeth.
»Nein«, sagte Chiron. »Ein törichter Gedanke. Das ganze Tal ist von der Wirkung des Gifts betroffen. Die magischen Grenzen lösen sich auf. Das Camp stirbt. Nur eine einzige Quelle der Magie könnte die Wirkung des Gifts rückgängig machen, aber die haben wir schon vor Jahrhunderten verloren.«
»Welche denn?«, fragte ich. »Wir müssen sie wiederfinden!«
Chiron schloss seine Satteltasche. Er schaltete den Ghettoblaster aus. Dann drehte er sich um, legte mir die Hand auf die Schulter und schaute mir in die Augen.
»Percy, du musst mir versprechen, dass du nicht vorschnell handeln wirst. Ich habe deiner Mutter gesagt, dass ich dich in diesem Sommer hier nicht sehen will. Es ist viel zu gefährlich. Aber da du nun einmal hier bist – bleib hier. Widme dich dem Training. Lerne kämpfen. Aber verlass das Camp nicht.«
»Warum?«, fragte ich. »Ich möchte etwas tun! Ich kann doch die Grenzen nicht einfach zerfallen lassen. Dann wird doch das ganze Camp …«
»Von Ungeheuern überrannt«, sagte Chiron. »Ja, das fürchte ich auch. Aber du darfst dich nicht zu vorschnellen Entscheidungen verleiten lassen. Das hier könnte eine Falle des Herrn der Titanen sein. Denk an den vorigen Sommer! Er hat dich fast ums Leben gebracht.«
Das stimmte zwar, aber ich wollte unbedingt helfen. Und ich wollte mich an Kronos rächen.
Ich meine, man könnte doch annehmen, der Titanenherr hätte schon vor Äonen seine Lektion gelernt, damals, als die Götter ihn vom Thron gestürzt hatten. Man sollte meinen, in eine Million Stücke zerhackt und in den finstersten Teil der Unterwelt geworfen zu werden, wäre eine klare Andeutung, dass er anderswo nicht willkommen war. Aber nichts da. Weil er unsterblich war, lebte er noch immer da unten im Tartarus – litt ewige Qualen, sehnte sich danach, zurückzukehren und dem Olymp alles heimzuzahlen. Er konnte nicht selbstständig handeln, aber er war geschickt darin, den Sterblichen den Kopf zu verdrehen und sogar Götter die Drecksarbeit für sich machen zu lassen.
Bestimmt steckte er hinter dieser Giftaktion. Wer könnte sonst so tief sinken und Thalias Baum angreifen, den einzigen Überrest einer Heldin, die ihr Leben für ihre Freunde gegeben hatte?
Annabeth gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. Chiron wischte ihr eine Träne von der Wange.
»Bleib bei Percy, Kind«, sagte er zu ihr. »Sorg dafür, dass er in Sicherheit ist. Und denk an die Weissagung!«
»Ja – das werde ich.«
»Äh«, sagte ich. »Ist hier zufällig von dieser supergefährlichen Weissagung die Rede, die von mir handelt, aber die Sie mir aufgrund der göttlichen Befehle nicht verraten dürfen?«
Alle schwiegen.
»Na gut«, murmelte ich. »Hat mich nur mal interessiert.«
»Chiron …«, sagte Annabeth, »… Sie haben mir erzählt, dass die Götter Sie nur so lange unsterblich gemacht haben, wie Sie gebraucht werden, um Heroen zu trainieren. Wenn Sie aus dem Camp entlassen werden …«
»Schwör mir, dass du alles tun wirst, um Percy vor Gefahr zu bewahren«, mahnte Chiron. »Schwör beim Fluss Styx.«
»Ich … ich schwöre beim Fluss Styx«, sagte Annabeth.
Draußen grollte der Donner.
»Sehr gut«, sagte Chiron. Er wirkte jetzt ein klein wenig lockerer. »Vielleicht wird meine Unschuld bewiesen und ich kann zurückkehren. Bis dahin werde ich meine wilden Verwandten in den Everglades besuchen. Vielleicht kennen sie ein vergessenes Gegengift. Auf jeden Fall werde ich im Exil bleiben, bis dieser Fall geklärt ist … so oder so.«
Annabeth unterdrückte ein Schluchzen.
Chiron streichelte unbeholfen ihre Schulter. »Aber, aber, Kind. Ich muss deine Sicherheit Mr D und dem neuen Unterrichtskoordinator anvertrauen. Wir müssen hoffen … na ja, vielleicht werden sie das Camp nicht so schnell zerstören, wie ich fürchte.«
»Wer ist eigentlich dieser Tantalus?«, fragte ich. »Wie kommt der dazu, sich Ihren Posten unter den Nagel zu reißen?«
Ein Muschelhorn erscholl im Tal. Mir wurde erst jetzt klar, wie spät es schon war. Es wurde Zeit, sich zum Abendessen einzufinden.
»Geht jetzt«, sagte Chiron. »Ihr werdet ihn im Pavillon kennenlernen. Ich werde deiner Mutter mitteilen, dass du in Sicherheit bist, Percy. Bestimmt macht sie sich schon Sorgen. Und denk an meine Warnung! Du schwebst in großer Gefahr. Bilde dir auch nicht für eine Sekunde ein, der Titanenherr könnte dich vergessen haben!«
Mit diesen Worten trabte er aus dem Zimmer und über den Gang. Tyson rief hinter ihm her: »Pony! Bleib hier!«
Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, Chiron meinen Traum von Grover zu erzählen. Jetzt war es zu spät. Der beste Lehrer, den ich je gehabt hatte, war verschwunden … vielleicht für immer.
Tyson heulte fast so jämmerlich los wie Annabeth.
Ich versuchte ihnen einzureden, dass alles in Ordnung kommen würde, aber ich glaubte es selber nicht.
Die Sonne ging hinter dem Speisepavillon unter, als alle aus ihren Hütten kamen. Wir standen im Schatten einer Marmorsäule und sahen zu.
Annabeth war noch immer ziemlich fertig, aber sie versprach, später mit uns zu reden. Dann ging sie los, um sich ihren Halbgeschwistern aus der Athene-Hütte anzuschließen – einem Dutzend Jungen und Mädchen mit blonden Haaren und grauen Augen wie sie. Annabeth war nicht die Älteste, aber sie hatte wahrscheinlich mehr Sommer als alle anderen hier im Lager verbracht. Das verriet ein Blick auf ihr Halsband – es gab eine Perle für jeden Sommer und Annabeth hatte sechs. Niemand stellte ihr Recht in Frage, ganz vorn in der Schlange zu stehen.
Als Nächste kam Clarisse, die die Ares-Sprösslinge anführte. Sie trug einen Arm in einer Schlinge und hatte eine scheußliche Wunde in der Wange, ansonsten schien ihr Zusammenstoß mit dem Bronzestier keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben. Irgendwer hatte ihr ein Blatt Papier mit der Aufschrift »DU MUHST, ALTE!« auf den Rücken geklebt. Aber niemand aus ihrer Hütte machte sich die Mühe, sie darauf aufmerksam zu machen.