Beckendorf führte das Hephaistos-Team an den Start. Sie hatten ein hübsches Gefährt aus Bronze und Eisen hergestellt und sogar die Pferde waren Maschinen wie die Stiere von Colchis. Ich war ganz sicher, dass ihr Wagen mehr magische Gerätschaften und ausgefeilte technische Sonderfunktionen eingebaut hatte als ein voll ausgestatteter Maserati.
Der Ares-Wagen war blutrot und wurde von zwei unheimlichen Pferdeskeletten gezogen. Clarisse bestieg ihn mit etlichen Wurfspeeren, Morgensternen, Fußangeln und noch allerlei ekligem Spielzeug.
Der Apollo-Wagen war schmal und elegant und ganz aus Gold, er wurde von zwei wunderschönen Palominos gezogen. Der Kämpfer war mit einem Bogen bewaffnet, hatte aber versprochen, die gegnerischen Lenker nicht mit spitzen Pfeilen zu beschießen.
Der Hermes-Wagen war grün und machte irgendwie einen seltsamen Eindruck, so als sei er seit Jahren nicht mehr aus der Garage gekommen. Er sah nach nichts aus, aber er war bemannt mit den Steel-Brüdern, und mir wurde schlecht beim Gedanken an die miesen Tricks, die sie sich vielleicht ausgedacht hatten.
Und dann waren da noch der Athene-Wagen, gelenkt von Annabeth, und meiner.
Ehe das Rennen losging, versuchte ich, mit Annabeth zu sprechen und ihr von meinem Traum zu erzählen. Sie schaute auf, als ich Grover erwähnte, aber als sie hörte, was er gesagt hatte, wurde sie wieder distanziert und misstrauisch.
»Du versuchst mich nur abzulenken«, erklärte sie.
»Was? Nein, wirklich nicht.«
»Jaja. Als ob Grover zufällig über das eine gestolpert wäre, was das Lager retten kann.«
»Wie meinst du das?«
Sie verdrehte die Augen. »Geh zu deinem Wagen zurück, Percy.«
»Ich hab mir das nicht ausgedacht. Er steckt in der Klemme, Annabeth.«
Sie zögerte. Ich konnte sehen, dass sie überlegte, ob sie mir vertrauen könnte. Obwohl wir ab und zu aneinandergerieten, hatten wir zusammen allerlei durchgemacht. Und ich wusste, sie würde niemals zulassen, dass Grover etwas zustieß.
»Percy, es ist so schwer, einen Empathielink herzustellen. Ich meine, es ist wahrscheinlicher, dass du geträumt hast.«
»Das Orakel«, sagte ich. »Wir können das Orakel befragen.«
Annabeth runzelte die Stirn.
Im vergangenen Sommer, ehe ich zu meinem Auftrag aufgebrochen war, hatte ich den seltsamen Geist auf dem Dachboden des Hauptgebäudes besucht, und dessen Weissagung hatte sich auf eine Weise erfüllt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Diese Erfahrung hatte mich monatelang fertiggemacht. Annabeth wusste, dass ich niemals wieder dorthin gehen würde, wenn die Lage nicht wirklich ernst wäre.
Ehe sie antworten konnte, hörten wir das Muschelhorn.
»Wagen!«, rief Tantalus. »An den Start!«
»Wir reden nachher weiter«, sagte Annabeth. »Wenn ich gewonnen habe.«
Als ich zu meinem Wagen zurückging, sah ich, dass jetzt noch mehr Tauben auf den Bäumen saßen. Sie schrien wie verrückt und ließen den ganzen Wald rauschen. Niemand außer mir schien auf sie zu achten, aber mich machten sie nervös. Ihre Schnäbel glitzerten seltsam und ihre Augen schienen stärker zu leuchten als die von normalen Vögeln.
Tyson hatte Mühe, unsere Pferde unter Kontrolle zu bringen. Ich musste lange auf sie einreden, ehe sie sich beruhigten.
Er ist ein Ungeheuer, Herr, klagten sie.
Er ist ein Sohn des Poseidon, sagte ich darauf. Genau wie … na ja, genau wie ich.
Nein!, widersprachen sie. Ungeheuer. Pferdefresser. Kein Vertrauen.
Ich gebe euch nach dem Rennen Zuckerwürfel, sagte ich.
Zuckerwürfel?
Sehr große Zuckerwürfel. Und Äpfel. Hab ich die Äpfel schon erwähnt?
Endlich waren sie bereit, sich anschirren zu lassen.
Falls ihr noch keinen griechischen Rennwagen gesehen habt – er ist auf Geschwindigkeit konstruiert, nicht auf Sicherheit oder Bequemlichkeit. Es ist im Grunde ein hölzerner Korb, der auf der Achse zwischen zwei Rädern befestigt ist. Der Wagenlenker steht die ganze Zeit und spürt jede Unebenheit im Boden. Der Wagen ist aus sehr leichtem Holz, und wenn man bei den scharfen Kurven am Ende der Rennstrecke aus dem Gleichgewicht gerät, kippt man um und der Wagen und man selber werden zerquetscht. Es ist ein noch größerer Kick als Skateboardfahren.
Ich nahm die Zügel und manövrierte den Wagen an den Start. Tyson reichte ich die drei Meter lange Stange und sagte ihm, er solle die anderen Wagen wegschieben, wenn sie zu dicht an uns heranrückten, und alles abwehren, womit sie uns vielleicht bewarfen.
»Aber nicht die Ponys hauen«, sagte er.
»Nein«, stimmte ich zu. »Und die Leute auch nicht, wenn du das vermeiden kannst. Wir wollen ein sauberes Rennen fahren. Wehr einfach alles ab und ich konzentriere mich aufs Fahren.«
»Wir gewinnen!« Er strahlte.
Wir werden dermaßen verlieren, dachte ich, aber ich musste es einfach versuchen. Ich wollte den anderen zeigen … Ich wusste nicht recht, was ich ihnen zeigen wollte. Dass Tyson gar nicht so schlimm war? Dass ich mich nicht schämte, mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden? Dass ihr Spott und ihre Witze mich nicht verletzt hatten?
Als die Wagen Aufstellung nahmen, versammelten sich im Wald noch mehr Tauben mit leuchtenden Augen. Sie schrien so laut, dass die Zuschauer nun doch auf sie aufmerksam wurden, sie schauten nervös zu den Bäumen hoch, die unter dem Gewicht der Vögel zu zittern schienen. Tantalus wirkte unbesorgt, musste sich aber große Mühe geben, sich über den Lärm Gehör zu verschaffen.
»Wagen!«, brüllte er. »Achtung, fertig –«
Er winkte und gab das Startsignal. Die Wagen jagten los. Hufe donnerten über den Lehmboden. Die Menge jubelte.
Fast im selben Moment hörte ich ein lautes, fieses KRACK. Ich schaute mich um und konnte gerade noch sehen, wie der Apollo-Wagen umkippte. Der Hermes-Wagen hatte ihn gerammt – vielleicht aus Versehen, vielleicht nicht. Das Team wurde über Bord geworfen, die Pferde gerieten in Panik und zogen den goldenen Wagen seitwärts über die Rennstrecke. Das Hermes-Team, Connor und Travis Steel, lachte glücklich, aber das Lachen sollte ihnen bald vergehen. Die Apollo-Pferde stießen mit ihren Pferden zusammen und der Hermes-Wagen fiel ebenfalls um. Zurück blieben ein Haufen Holzsplitter und vier wiehernde Pferde.
Zwei Wagen auf den ersten sieben Metern. Toller Sport.
Ich schaute wieder nach vorn. Wir lagen sehr gut, vor Ares immerhin, Annabeth aber war weit vor uns. Sie hatte schon die erste Wendestelle erreicht; ihr Kämpfer grinste, winkte uns zu und rief: »Bis später!«
Auch der Hephaistos-Wagen holte jetzt auf.
Beckendorf drückte auf einen Knopf und an der Seite des Wagens ging eine Klappe auf.
»Tut mir leid, Percy«, schrie er. Drei Kugeln an Ketten jagten auf unsere Räder zu. Sie hätten uns zu Kleinholz gemacht, wenn Tyson sie nicht blitzschnell mit seiner Stange abgewehrt hätte. Er versetzte dem Hephaistos-Wagen einen heftigen Stoß und er schlitterte zur Seite, während wir weiterrasten.
»Gut gemacht, Tyson«, schrie ich.
»Vögel«, rief er.
»Was?«
Wir schossen so schnell dahin, dass man kaum etwas sehen oder hören konnte, aber Tyson zeigte auf den Wald und ich sah, was ihm Sorgen machte. Die Tauben waren von den Bäumen aufgeflogen. Sie wirbelten wie ein gewaltiger Tornado durch die Luft und steuerten die Rennstrecke an.
Kein Problem, sagte ich mir. Das sind doch bloß Tauben.
Ich versuchte, mich auf das Rennen zu konzentrieren.
Wir hatten die erste Wende hinter uns, unter uns knackten die Räder, der Wagen drohte umzukippen, aber wir waren dichter an Annabeth herangekommen. Wenn ich noch ein wenig aufholte, dann könnte Tyson mit seiner Stange …