Meine Stimme versagte, als ich an die vielen Jahre dachte, in denen Tyson obdachlos in New Yorks Straßen in einem Kühlschrankkarton gehaust hatte. Wie konnte Tyson sich einbilden, Poseidon sei jemals lieb zu ihm gewesen? Welcher Vater hätte seinem Kind das zugemutet, auch wenn dieses Kind ein Ungeheuer war?
»Tyson … das Camp wird ein gutes Zuhause für dich sein. Die anderen werden sich an dich gewöhnen. Das versprech ich dir.«
Tyson seufzte. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Dann ging mir auf, dass er bereits eingeschlafen war.
Ich ließ mich auf mein Bett zurücksinken und versuchte, die Augen zu schließen, aber das wollte mir nicht gelingen. Ich hatte Angst, wieder von Grover zu träumen. Wenn es den Empathielink wirklich gab … und wenn Grover etwas passierte … würde ich dann jemals wieder aufwachen?
Der Vollmond schien in mein Fenster. In der Ferne dröhnte die Brandung. Ich konnte den warmen Duft der Erdbeerfelder wahrnehmen und das Lachen der Dryaden hören, die Eulen durch den Wald jagten. Aber irgendetwas an dieser Nacht fühlte sich nicht richtig an – die Krankheit von Thalias Baum, die sich im Tal ausbreitete.
Würde Clarisse Half-Blood Hill retten können? Vermutlich würde ich eher den Preis als »Bester Campbewohner« von Tantalus bekommen.
Ich stand auf, zog mir etwas über und schnappte mir eine Decke und die Sechserpackung Cola unter meinem Bett. Die Cola war gegen die Regeln. Essen oder Trinken von draußen war nicht gestattet, aber wenn man mit dem richtigen Typen aus der Hermes-Hütte redete und ihm ein paar goldene Drachmen zusteckte, dann konnte er aus dem nächstgelegenen Supermarkt fast alles hereinschmuggeln.
Auch nach der Sperrstunde die Hütte zu verlassen verstieß gegen die Regeln. Wenn ich bei einem von diesen Vergehen erwischt würde, dann würde ich entweder einen Haufen Ärger kriegen oder von den Harpyien gefressen werden. Aber ich wollte den Ozean sehen. Da fühlte ich mich immer besser. Meine Gedanken waren dort klarer.
Ich verließ die Hütte und steuerte den Strand an.
Ich breitete meine Decke nahe am Wasser aus und öffnete eine Cola. Aus irgendeinem Grund konnten Zucker und Koffein mein hyperaktives ADHD-Gehirn immer tiefkühlen. Ich überlegte, wie ich das Camp retten könnte, aber mir kam keine Idee. Ich wünschte, Poseidon würde mit mir reden, mir vielleicht einen Rat geben …
Der Himmel war klar und voller Sterne. Ich suchte gerade die Sternbilder, die Annabeth mir gezeigt hatte – Schütze, Herkules, Corona Borealis –, als jemand sagte: »Schön, was?«
Ich hätte fast Cola gespuckt.
Neben mir stand ein Typ in einer kurzen Jogginghose aus Nylon und einem T-Shirt vom New-York-Marathon. Er war schlank und fit, hatte graumelierte Haare und ein listiges Lächeln. Er kam mir irgendwie bekannt vor … aber mir wollte nicht einfallen, woher.
Mein erster Gedanke war, dass er einen nächtlichen Strandlauf machte und aus Versehen auf das Campgelände geraten war. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Gewöhnliche Sterbliche konnten das Tal nicht betreten. Vielleicht hatte er es geschafft, weil die Magie des Baumes schwächer wurde. Aber mitten in der Nacht? Außerdem gab es in der Umgebung nur Felder und Naturschutzgebiete. Woher hätte dieser Typ also kommen können?
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er. »Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr gesessen.«
Also, ich weiß ja – fremder Typ mitten in der Nacht. Gesunder Menschenverstand: Ich hätte weglaufen müssen, um Hilfe schreien und so weiter und so fort. Aber der Typ wirkte so ruhig und gelassen, dass es mir schwerfiel, mich zu fürchten.
Ich sagte: »Äh, klar.«
Er lächelte. »Deine Gastfreundschaft spricht für dich. Ach, und Coca-Cola. Darf ich?«
Er setzte sich auf die Decke, öffnete eine Cola und trank einen Schluck. »Ah … das tut gut. Ruhe und Frieden …«
In seiner Tasche klingelte ein Handy.
Der Jogger seufzte. Er zog das Handy hervor und ich machte große Augen, weil es bläulich glühte. Als er an der Antenne zog, wickelte sich etwas darum – zwei grüne Schlangen, nicht größer als Regenwürmer.
Der Jogger achtete nicht auf sie. Er warf einen Blick auf das Display und fluchte. »Ich muss dieses Gespräch annehmen. Momentchen …« Dann sagte er ins Handy: »Hallo?«
Er horchte. Die kleinen Schlangen zuckten an der Antenne vor seinem Ohr auf und ab.
»Ja«, sagte der Jogger. »Hör mal – ich weiß … Ist mir egal, ob er an einen Felsen gekettet ist und ein Adler nach seiner Leber hackt; wenn er keine Belegnummer hat, können wir seine Sendung nicht ausfindig machen … Ein Geschenk an die Menschheit, klasse … Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele wir davon ausliefern? Ach, egal. Hör mal, verweis ihn an den Kundendienst.«
Er drückte auf die Aus-Taste. »Tut mir leid. Das Über-Nacht-Express-Geschäft boomt. Also, wie gesagt …«
»Sie haben Schlangen an Ihrem Handy.«
»Was? Ach, die beißen nicht. Sagt doch mal guten Tag, George und Martha.«
Guten Tag, George und Martha, sagte eine kratzige Männerstimme in meinem Kopf.
Spiel hier nicht den Clown, tadelte eine Frauenstimme.
Warum nicht?, fragte George. Ich mach hier doch all die Arbeit.
»Himmel, nicht schon wieder!« Der Jogger schob das Handy zurück in die Tasche. »Also, wo waren wir … ach ja, Ruhe und Frieden.«
Er streckte die Beine aus, legte die Knöchel übereinander und schaute zu den Sternen hoch. »Hab schon lange nicht mehr relaxen können. Seit das Telegrafieren erfunden worden ist – Hetze, Hetze, Hetze. Hast du ein Lieblingssternbild, Percy?«
Ich staunte noch immer über die kleinen grünen Schlangen, die er sich in die Jogginghose gestopft hatte, aber ich sagte: »Äh … mir gefällt Herkules.«
»Warum?«
»Na ja … weil er so viel Pech hatte. Noch mehr als ich. Und das hebt meine Laune.«
Der Jogger schmunzelte. »Nicht weil er vielleicht stark und berühmt war?«
»Nein.«
»Du bist ein interessanter junger Mann. Ja, und … was jetzt?«
Ich wusste sofort, was er meinte. Was ich wegen des Vlieses unternehmen wollte.
Ehe ich antworten konnte, kam die erstickte Stimme der Schlange Martha aus seiner Tasche: Hier ist Demeter auf Leitung 2.
»Jetzt nicht«, sagte der Jogger. »Sag ihr, sie soll eine Nachricht hinterlassen.«
Das wird ihr nicht gefallen. Als du sie zuletzt abgewimmelt hast, sind alle Blumen beim Botendienst verwelkt.
»Sag ihr einfach, ich sei in einer Besprechung.« Der Mann verdrehte die Augen. »Noch mal, tut mir leid, Percy. Du hast eben gesagt …«
»Äh … wer sind Sie eigentlich?«
»Hast du das noch immer nicht erraten, so ein cleverer Junge wie du?«
Zeig es ihm!, bettelte Martha. Ich war schon seit Monaten nicht mehr normal groß.
Hör nicht auf sie!, sagte George. Sie will nur angeben.
Der Mann zog das Handy wieder hervor. »Ursprüngliches Aussehen, bitte.«
Das Handy glühte leuchtend blau. Es zog sich zu einem neunzig Zentimeter langen Holzstab auseinander, aus dem oben Flügel herauswuchsen. George und Martha, jetzt ausgewachsene grüne Schlangen, wickelten sich in der Mitte umeinander. Es war ein Caduceus, das Symbol von Hütte 11.
Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich wusste jetzt, an wen der Jogger mich erinnerte, seine elfenhaften Züge, das boshafte Funkeln in den Augen …
»Sie sind Lukes Vater«, sagte ich. »Hermes.«
Der Gott machte einen Schmollmund. Er bohrte den Caduceus wie einen Regenschirm in den Sand. »Lukes Vater … so werde ich normalerweise nicht vorgestellt. Gott der Diebe, das schon. Gott der Boten und Reisenden, wenn die Leute nett sein wollen.«
Gott der Diebe passt doch gut, sagte George.
Ach, hör nicht auf George. Martha zeigte mir ihre Zunge. Er ist bloß sauer, weil Hermes mich lieber mag.